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 Industrialisierung in Großbritannien

Frühindustrialisierung in der hiesigen Region

Industriestrukturen und breite Fertigungspalette

Unerschütterliche Technikeuphorie

Sehnsucht nach der heilen Welt

Grenzen des Wachstums

  

 

 

 

 

 

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Industrialisierung,
Fluch oder Segen oder Beides ???

Zuammenstellung: Friedrich Holtz.

Die Industrialisierung erreichte im zweiten Viertel des 19. Jh. auch den Großraum Aachen, Stolberg, Eschweiler. Mit dem Abbau von Steinkohle und Erzen sowie einer Vielzahl von Glas- und Metallhütten (Eisen, Blei, Zink) entstand in diesem Gebiet eine Industrielandschaft, die als erstes und ältestes, zusammenhängendes Industrierevier Deutschlands gelten kann.

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Zinkhütte Birkengang,
Lithographie von Adrien Chanelle,
Bilder bitte anklicken !!!

Der mittlerweile weit über siebzig Jahre alte Verfasser wagt als Zeitzeuge eine Retrospektive auf die industriellen und kulturellen Entwicklungen bis zurück zur Frühindustrialisierung. Zum Teil ein Blick mit einem gewissen Verständnis für eine aus heutiger Sicht naive Fortschrittsgläubigkeit und Technikeuphorie. Ein Blick zurück auch auf einen grundlegenden Sinneswandel, der sich hinsichtlich der Beurteilung und Einschätzung technischer Neuheiten vollzog.

Die allgemein empfundene Skepsis gegenüber bestimmten Entwicklungen der jüngeren Zeit artikuliert sich in dem ironisch spöttischen Kalauer: “Welch ein Glück, dass die Sicherheitsnadel schon vor etwa 100 Jahren erfunden worden ist, sonst hätte sie heute vermutlich fünf Transistoren und müsste alle zwei Jahre zum TÜV“. 

  

Industrialisierung in Großbritannien

Die ursprünglich in England entstandene und auf Kontinentaleuropa 19. Jahrhundert übergreifende, unter dem Schlagwort „Industrielle Revolution“ bekannt gewordene Entwicklung muss nicht unbedingt als „Revolution“ verstanden werden. Der damit verbundene, tiefgreifende Wandel wurde begleitet von der Entwicklung neuer Technologien und Fertigungsformen in Verbindung mit drastischen sozialen bzw. gesellschaftlichen Umwälzungen.

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Englische Industrielandschaft zu frühindustrieller Zeit,
Bildquelle: WDR, Planet Wissen.

Besagte Industrielle Revolution darf mitnichten als Anfang, sondern muss, ganz im Gegenteil, als Fortsetzung und in gewisser Weise als Endphase einer Entwicklung gesehen werden, deren Grundlagen bereits einige Jahrhunderte früher gelegt worden waren.

Eine allumfassende Geistesbewegung führte in der frühen Neuzeit zu völlig neuen Ideen, Vorstellungen, Auffassungen und Entwicklungen, die sich zu einem neuen, modernen Weltbild verdichteten, dessen Grundideen man später mit den Begriffen Renaissance, Aufklärung und Humanismus belegte.

Während die mittelalterlichen Handwerker ihre Produkte noch in Einzelfertigung herstellten, setzten sich nun arbeitsteilige Fertigungsmethoden durch. Komplizierte Arbeitsabläufe wurden in einzelne Arbeitsgänge zerlegt, die von spezialisierten, teilweise nur angelernten Arbeitskräften ausgeführt werden konnten. Die arbeitsteiligen Fertigungsmethoden führten zu beträchtlichem Produktivitätszuwachs und zu Betriebsformen, die den Einsatz kapitalintensiver Einrichtungen wie bspw. Hochöfen, Hammerwerke, Spinnmaschinen bzw. Webstühle u.v.a.m. wirtschaftlich vertretbar und letztlich auch lukrativ machten.

Allerdings mussten Arbeitsmaschinen jedweder Art natürlich auch angetrieben werden, wobei lediglich stark limitierte Ressourcen wie Wasser- bzw. Windkraft, Pferdegöpel etc. zur Verfügung standen. Durch die Entwicklung von betriebssicheren Dampfmaschinen wurde es erstmals in der langen Technikgeschichte möglich, Antriebsenergie in nahezu beliebiger Menge einzusetzen; und das an jedem beliebigen Ort, zu jeder beliebigen Zeit.

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Beispiel zur vorindustriellen (spätmittelalterlichen) Nutzung der Wasserkraft
im Bergbau, Bildquelle: G. Agricola, Um 1500

  

Frühindustrialisierung
in der hiesigen Region

Wie bereits eingangs erwähnt, erreichte die Industrialisierungswelle im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts über Frankreich und Belgien auch den Großraum Aachen. Auf Grund einer Vielzahl von günstigen Standortbedingungen entstand insbesondere im Raum Eschweiler Stolberg eine Industrielandschaft, die als erstes und ältestes, zusammenhängendes Industrierevier Deutschlands gelten kann.

Und die industrielle Revolution kann in gewisser Weise als Endphase einer Entwicklung gesehen werden, deren Grundlagen bereits einige Jahrhunderte früher gelegt worden waren. Und abgeschlossen war diese Entwicklung auch nicht. Die Welle der Rationalisierungserfolge in den 1960er Jahren veranlasste vielfach dazu, von einer zweiten Industriellen Revolution zu sprechen. Die in den 1970er Jahren bei Unternehmen und Behörden eingeführte EDV für Lohnbuchhaltungen, Lagerverwaltung etc. wurde häufig als weiterer Schritt in der Entwicklungskette empfunden. Es lässt sich durchaus die Frage stellten, ob es sich wirklich um eine Revolution und nicht vielmehr um eine fortwährende Evolution handelt. Mit der offenbar bevorstehenden Digitalisierung scheint jedenfalls der nächste Quantensprung in der Evolution zeitlich nicht mehr weit entfernt.

Bereits vor dem Bau der Rheinischen Eisenbahn war die spezielle örtliche Lagerstättenkombination im Bereich Eschweiler-Stolberg von großer Bedeutung. Die zur Erzverhüttung benötigte Steinkohle lag nur wenige Kilometer von den Erzlagerstätten entfernt, nämlich im Bereich Birkengang, Atsch und Münsterbusch.

Da Kohle sowohl für die Erzverhüttung als auch für die Erzförderung (Wasserhaltung) benötigt wurde, war das Transportwesen in der Weise organisiert, dass auf dem Weg von den Erzgruben zu den Metallhütten, die sich (fast) ausschließlich im Bereich der Kohlegruben befanden, Erz transportiert wurde und auf dem Rückweg vom Kohlengürtel zu den Erzgruben Kohle mitgenommen werden konnte, um die dortigen Dampfpumpen für die Wasserhaltung zu betreiben.

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Diepenlinchen, Teilansicht.
Ölgemälde von Franz Hüllenkremer

  

Industriestrukturen
und breite Fertigungspalette

Im Bereich der Kohlegruben siedelten sich auch weitere Betriebe an, die von der Kohleförderung in unmittelbarer Nähe profitierten, u.a. auch Glashütten sowie Zink- Blei- und Eisenhütten. Insbesondere die Reputation der Blei- und Zinkhüttenindustrie sollte in der öffentlichen Wahrnehmung und bei dem sich wandelnden Umweltbewusstsein in den späten 1960-er und den frühen 19770-er Jahren nachhaltig geschädigt. Über viele Jahrzehnte waren die Publik-Relation-Abteilungen damit beschäftigt, eine gewisse Schadensbegrenzung zu erreichen. Grundstoff für die neu entstandene, florierende Zinkindustrie war zunächst der Galmei, ein Zinkerz, das in den leicht zugänglichen, oberflächen-nahen Bereichen von den Kupfermeistern bereits gänzlich abgebaut worden war.

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Galmei aus dem Steinbruch Bernardshammer, Sammlung und Foto: F. Holtz, H. Wotruba

Die einzige Möglichkeit, neue Erzmittel zu erschließen, bestand somit darin, die Grubenbaue zur Tiefe hin weiter vorzutreiben. Bezüglich der Erze gab es aber ein weiteres Problem, dessen Lösung zunächst mit ernsthaften Schwierigkeiten verbunden war, letztlich jedoch zu ganz erstaunlichen Konsequenzen führte. Und das lag daran, dass mit zunehmender Abbautiefe der Erztyp von Galmei nach Schalenblende wechselte, einer schicht- bzw. schalenförmig aufgebauten Ablagerung von ausschließlich schwefelhaltigen Erzen, die ihrerseits wiederum überwiegend aus Zinkblende und Bleiglanz bestand, wobei sowohl Zinkblende als auch Bleiglanz zur Weiterverwendung noch geröstet werden musste.

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Schalenblende
Sammlung: F. Holtz
Fotos: A. Paff

Für die Stolberger Region, letztlich jedoch gleichermaßen auch für alle anderen Zinkabbaugebiete, war der Einsatz von Zinkblende von entscheidender Bedeutung, da Galmei zunehmend knapper wurde und nicht mehr zur Verfügung stand. Angesichts dieser Situation gründete der Apotheker Friedrich Wilhelm Hasenclever 1850 in der Atsch die Waldmeisterhütte, welche vier Jahre später in eine Aktiengesellschaft, der Chemischen Fabriken Rhenania, umgewandelt wurde. Das Unternehmensziel war erstens, die Zink- bzw. Schalenblende durch geeignete Röstverfahren für die Verhüttung verwertbar zu machen und zweitens die hierbei entstehenden Röstgase (Schwefeldioxyd) zur Herstellung von Schwefelsäure zu nutzen.

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Friedrich Wilhelm Hasenclever,
Quelle: H. Beckers, Bestand: Maria May

Während das erstere (Nutzbarmachung der Röstgase) auf Anhieb gelang, gab es mit dem Schwefeldioxyd anfangs erhebliche Schwierigkeiten. Das für die Umwelt höchst problematische Gas konnte nur sehr schwer aufgefangen werden und entwich zunächst gänzlich und später zum großen Teil in die Atmosphäre. Bäume und Sträucher wurden in der Nähe derartiger Röstanlagen zur absoluten Rarität, aber auch in weiterem Umkreis traten, je nach bevorzugter Windrichtung, erhebliche Vegetationsschäden auf, so dass die Betreiber sich gezwungen sahen, beträchtliche Entschädigungszahlungen zu leisten.

Eine gewisse Abhilfe versprach man sich von einem schon 1857 geplanten Industrieschornstein (gemeint ist hier der „Lange Hein“ an der St. Heinrichshütte Münsterbusch), der auf Grund seiner außergewöhnlichen Höhe eine direkte Einwirkung der schädlichen Industriegase auf die nähere Umgebung verhindern sollte. Dieser Lösungsansatz, so hätte man eigentlich damals schon realisieren müssen, war keineswegs eine Vermeidung der Schadstoffgehalte, sondern lediglich eine Verdünnung, die zwangsläufig zur großräumigen Verbreitung eben dieser Schadstoffe führte.

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Der Lange Hein, im Hintergrund die Rauchfahnen der Zinkhütte Münsterbusch

Das Röstgasproblem wurde letztlich durch den Einsatz von geschlossenen Muffeln gelöst, in welchen das Röstgut nunmehr indirekt aufgeheizt wurde. Damit die im Röstraum freigesetzten Schwefeldioxyd-Gase gesammelt und abgeführt werden konnten, waren die einzelnen Muffeln untereinander verbunden. Die Entwicklungsstufen der Röstöfen sind mit den Begriffen Hasenclever-Ofen, Hasenclever-Helbig-Ofen und Rhenania-Ofen belegt. Die jüngste Entwicklung, der Rhenania-Ofen, wurde dann während einiger Jahrzehnte weltweit zum Abrösten von Zinkblende eingesetzt.

Die Bedeutung der Röstgase wird eigentlich erst verständlich, wenn man sich die damalige Situation (nicht nur in Stolberg, sondern weltweit) einmal vor Augen hält. Der mit der Industriellen Revolution einhergehende allgemeine Trend zur Mechanisierung hatte damals insbesondere in der Textilindustrie eine stürmische Entwicklung eingeleitet. Man denke nur an die mechanischen Webstühle, mit deren Hilfe jetzt plötzlich ungeahnte Mengen billiger Tuche produziert werden konnten. Entsprechend groß wurden somit auch die Mengen der Rohwolle, die vorbehandelt werden mussten. In den Wäschereien und Bleichereien benötigte man hierzu eine Substanz, die in Pflanzenasche (vorzugsweise Holzasche) enthalten war und Pottasche genannt wurde. Die Pottasche bestand aus Kaliumkarbonat und konnte mittels Wasser aus der Pflanzenasche ausgewaschen werden. Die hierzu erforderlichen Gefäße (Pötte) haben dieser Substanz dann auch ihren Namen gegeben.

Die Herstellung der Pottasche oder der Holzasche überhaupt wäre an sich kein Problem gewesen, wenn Holz nicht in zunehmendem Maße und europaweit knapp geworden wäre. Eine gewisse kurzzeitige Entspannung der Situation ergab sich, als man dazu überging, auch die Asche von Seepflanzen zu verwenden. Der hierin enthaltene Wirkstoff war Natriumkarbonat, auch Soda genannt. Durch die Verwendung der Seepflanzenasche wurde das Problem zwar etwas entschärft, aber nicht grundsätzlich gelöst, da auch für andere Produktionsprozesse Soda in großen Mengen benötigt wurde. Die Glasindustrie nämlich setzte  große Sodamengen als Flussmittel ein, und natürlich wurde Soda zur Herstellung von Seifen und Waschmittel benötigt.

Die Soda und die Pottasche waren also sozusagen Schlüsselsubstanzen, da die Entwicklung bedeutender Industriezweige (Textil, Glas und Waschmittel) entscheidend von der Verfügbarkeit der Soda, der Pottasche oder ganz allgemein von dem knappen und teuren Grundstoff Pflanzenasche abhing. Daher kam zunehmend synthetische Soda zum Einsatz, die seit kurzem unter Verwendung von Salz, Schwefelsäure, Kohle und Kalkstein nach dem sogenannten Leblanc-Verfahren hergestellt werden konnte.

Während Kalkstein und Kohle in der Region reichlich vorhanden waren, fehlten zur Sodaherstellung noch Salz und Schwefelsäure. Beim Steinsalz musste man sich mit relativ langen Transportwegen abfinden, da es in der näheren Umgebung nicht zu bekommen war. Das jedoch stellte eigentlich das kleinere Übel dar, da Steinsalz nur zu 16% an der Sodaproduktion beteiligt war. Bezüglich der Schwefelsäure müssten wir jetzt noch wissen, dass die bei der Abröstung der Erze freiwerdenden Röstgase in Bleikammeranlagen zu Schwefelsäure umgesetzt werden konnten. Und diese Schwefelsäure wiederum diente als Rohstoff für das begehrte Schlüsselprodukt Soda. 

Schlüsselprodukt Soda, Skizze: F. Holtz, bitte anklicken !!!

Die Epoche der Frühindustrialisierung war ganz allgemein und insbesondere auch in Stolberg gekennzeichnet durch gegenseitige Abhängigkeiten (Interdependenzen) und Verflechtungen zwischen den einzelnen Industriezweigen; Interdependenzen und Verflechtungen, die vorwiegend und ursächlich technologischer Natur waren. Das ist am Beispiel der Stolberger Zinkindustrie recht deutlich darstellbar. Die bei der Aufbereitung der Zinkblende als Abfallprodukt anfallenden Röstgase dienten einem anderen Industriezweig, in diesem Fall der besonders wichtigen Sodachemie, als Grundstoff.

Dieses Prinzip lässt sich durchaus generalisieren, denn vergleichbare Verhältnisse ergaben sich beispielsweise auch bei den Kokereien, wo das anfangs lästige Abfallprodukt Teer sehr bald zum begehrten Grundstoff für die Teerchemie wurde, deren Produkte wiederum in so unterschiedlichen Bereichen Verwendung fanden, wie beispielsweise Farbstoffherstellung oder Pharmaindustrie.

 

Unerschütterliche Technikeuphorie

Grenzenloser Optimismus, und Vertrauen in neue Technologien sowie die euphorische Aufbruchstimmung scheinen sich auch deshalb eingestellt zu haben, weil man sich den Fortschritt durchaus hart hatte erarbeiten müssen, und der Erfolg somit nicht Glücksfall, sondern Ergebnis gezielter Bemühungen war. Alles schien möglich, wenn man nur wollte und sein Ziel beharrlich verfolgte. Und wollen wollte man, in Stolberg und anderswo, nur dass die Voraussetzungen in Stolberg ganz besonders günstig waren.

Das Problem mit den Röstgasen schien mit der Entwicklung des Rhenania-Ofens endgültig gelöst. Der unerschütterliche Glaube, alle Probleme, die sich aus der Anwendung neuer Technologien ergaben, mit immer noch neueren Technologien letztlich doch beherrschen zu können, wurde bei der Sodaherstellung auf eine harte Probe gestellt. Es verblieb nämlich ein Reststoff bestehend aus Kalziumsulfid, Asche, Kalk- und Kohlereste; eine graue, nach faulen Eiern stinkende Mixtur, mit der man nichts anzufangen wusste. Diese Masse wurde als lästiges Abfallprodukt auf Halden deponiert (z. B. Rhenania Halde Atsch), und diese Tatsache war aus heutiger Sicht das eigentliche Problem des Leblanc-Prozesses.

Der weitaus problematischste Bestandteil dieses Abfallstoffes ist das Kalziumsulfid, aus dem beim Zusammentreffen mit säurehaltigen Wässern giftiger Schwefelwasserstoff freigesetzt wird, der in ganz erheblichem Maße die Luft verpestet. Insbesondere die aus den Halden austretenden Sickerwässer enthalten auch heute noch Schwefelverbindungen, die durch Folgereaktionen entstehen und die Gewässer belasten. Die in der Luft enthaltene Kohlensäure und der saure Regen halten den übelriechenden Prozess weiter in Gang, wie sich in der Gegend des Stolberger Bahnhofs, wo die Rhenania einmal gestanden und ihre Rückstände deponiert hat, immer noch leicht und deutlich zu riechen ist.

Aber auch hierfür hatte sich damals eine Lösung angedeutet, denn in Stolberg hatte man sehr früh schon und in Deutschland erstmalig damit begonnen, Schwefelrückgewinnung zu betreiben und das hierzu entwickelte Verfahren ließ auch betriebswirtschaftlich interessante Ergebnisse erwarten. Bevor jedoch die Entschwefelung in großtechnischem Maßstab eingesetzt werden konnte, war das Leblanc-Verfahren bereits technisch überholt und von dem energetisch und wirtschaftlich günstigeren Solvay-Verfahren abgelöst worden, bei welchem dieser lästige Abfallstoff nicht anfiel. Somit ließen sich die möglicherweise aufkommenden Zweifel zerstreuen, was aus damaliger Sicht auch durchaus nachvollziehbar, verständlich und plausibel ist.

Rauchende Schlote im Bereich Münsterbusch,
Privatarchiv H. Kreitz, bitte anklicken

Rauchgas und andere Schadstoffe im Gebiet Münsterbusch veranlasste die Stolberger Bevölkerung, den Münsterbuschern den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Schwambülle“ zu verpassen. Das aber war sicherlich nicht beleidigend gemeint, sondern man hat sie ganz im Gegenteil offensichtlich akzeptiert, die Münsterbuscher mit ihrem Qualm, denn eine andere Redensart behauptete, „der Kamin müsse rauchen“, um wirtschaftlichen Fortschritt sicherzustellen. „Schwambülle“ und Kamine, die rauchen, können durchaus als Redensarten gelten, die in humoristischer Weise das Bewusstsein um den ambivalenten Charakter der industriellen Entwicklung reflektieren.

Die in früherer Zeit übliche, etwas sehr sorglose Attitüde im Umgang mit Umweltproblematiken aller Art muss auch vor dem Hintergrund damaliger Vorstellungen gesehen werden. Bis weit ins 20. Jahrhundert hatte man die Natur, die überwältigende Schöpfung, der man sich nahezu schutzlos ausgesetzt fühlte, als unbeeinflußbar und unendlich empfunden. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die gewaltige Schöpfung in ihrer Gesamtheit durch Aktivitäten des Menschen hätte beeinträchtigt oder gar beschädigt werden können.

   

Sehnsucht nach der heilen Welt

Angesichts der völligen Umwandlung ganzer Landschaften in Deutschland (und überhaupt in der von der Industrialisierung betroffenen Welt) muss dann irgendwann doch ein Unbehagen spürbar geworden sein; ein Bewusstsein dafür, dass gewisse Werte, die man als selbstverständlich erachtet hatte, unwiederbringlich verloren gingen. Und wenn man bedenkt, mit welcher Dramatik sich diese Umwandlung vollzog, mit welcher Dynamik immer neue, rauchende, stinkende, schmutzauswerfende Industrieanlagen entstanden, kann man sich eigentlich nur wundern, wie zaghaft, zögerlich und zurückhaltend sich dieses Unbehagen artikulierte. Eigentlich sogar hat dieses Unbehagen nie die Form eines Protestes angenommen, sondern ließ eine heimliche, introvertierte Sehnsucht nach der „heilen Welt“ entstehen. Man befand sich allerdings auch in einer Zwickmühle, denn einerseits erhoffte man sich von der immer weiter fortschreitenden Industrialisierung sehr berechtigterweise einen Zuwachs des allgemeinen Wohlstandes, wobei man andererseits zu begreifen begann, dass dieser Fortschritt seinen Preis forderte.

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Waldbestand mit ökologisch wertvoller Offenlandfläche
im Eifelvorland, Foto: W. Schlepütz.

Es gab aber, gewissermaßen als Beruhigung des schlechten Gewissens, überall noch leicht erreichbare, unberührte Naturrefugien, die, nach damals gängiger Auffassung, von bleibendem, dauerhaftem Bestand zu sein schienen. Im Gegensatz zu früheren Zeiten stellten diese unberührten Landschaften, eben weil sie in den Industriezentren zur Seltenheit geworden waren, jetzt einen Wert an sich dar. Die vormals so gering geschätzten Naturlandschaften standen plötzlich als Inbegriff eines schwärmerisch verklärten Ideals; als Ziel einer wehmütig sentimentalen Sehnsucht, die um die Jahrhundertwende in der Wandervogelbewegung zum bestimmenden Lebensgefühl wurde.

Das gleiche Empfinden hat in den 1950er und 60er Jahren mit dem Aufblühen der Wirtschaft und einem zunehmenden Wohlstand zu einem weiteren Phänomen geführt. Die durch Motorisierung erworbene Mobilität wurde vorzugsweise dazu genutzt, dem wenig attraktiven, industriell geprägten Umfeld für wenige Stunden oder Tage zu entfliehen. In der Industriestadt Stolberg, direkt an der Nahtstelle zur Eifel gelegen, manifestierte sich das Massenphänomen „Landschaftstourismus“ in besonders deutlicher Weise.

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In den letzten Jahrzehnten erfuhr das Wandern ein echtes Revival

An schönen Sonntagen verstopfte der aus der Eifel zurückströmende Ausflugsverkehr regelmäßig die Durchgangsstraßen. Der Wunsch, intakte Landschaft zu genießen, führte letztlich zu Migrationsbewegungen in umgekehrter Richtung, nämlich aus den Ballungsgebieten heraus hin zum ländlichen Raum. Die Möglichkeiten des motorisierten Individualverkehrs erfüllten einerseits den Traum vom „Häuschen im Grünen“, trugen andererseits jedoch erheblich zur Zersiedelung der Landschaft bei.

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Isetta, beliebtes Kleinfahrzeug der späten 1950er
bzw. frühen 60er Jahre, Privatarchiv.

In den letzten Jahren ist ein umgekehrter Trend, vom Land zurück in die Stadt, zu beobachten. Dies mag zum Teil daran liegen, dass in der heute vorwiegend vom Dienstleistungsgewerbe beherrschten Gesellschaft stadtnahe Industriebetriebe seltener geworden sind. Außerdem arbeitet die Industrie mittlerweile unter ganz erheblich strengeren Umweltauflagen.

 

Grenzen des Wachstums

Die Erkenntnis, dass wir in einem nur endlichen Globalsystem leben, setze sich erst in den späten 60-er und den frühen 70-er Jahren und führte zu einer grundlegenden, fast revolutionären Veränderung des allgemeinen Bewusstseins. Ausgelöst wurde diese Entwicklung durch die Veröffentlichung des „Clubs of Rome“ mit dem Titel „Limits to Growth (Grenzen des Wachstums)“, einem internationalen Zusammenschluss von Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaften.

Ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten weiß heute buchstäblich jedes Kind, was wir unserer Umwelt zumuten. Seitens der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geschieht jedenfalls (außer Geschwätz) so gut wie gar nichts. Wenn man nun bedenkt, dass man selbst ebenfalls besagter Gesellschaft angehört, stellt sich neben achselzuckendem Bedauern und Unverständnis eigentlich nur blanker Zorn und ohnmächtige Wut ein.

Angesichts der alarmierenden Umweltsituation mit Artensterben, Klimawandel sowie weltweit auftretenden, extremen und beängstigenden Wetterphänomenen verbleibt uns kaum noch Zeit, etwas Grundlegendes und Wirksames zu beginnen.


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