Einführung
Auf Grund ergiebiger Zink- und Bleierzlagerstätten entwickelte
sich im Bereich der Ortschaften Gressenich, Werth, Mausbach und
Breinigerberg schon sehr früh eine bedeutende
Bergbautätigkeit. Die Anfänge sind bis zur Römerzeit gut
zu verfolgen, wobei ein noch früherer, keltischer Abbau ebenfalls
zu vermuten ist.
Erzabbau und -verarbeitung kamen mit dem Eindringen der Franken
zunächst zum Erliegen, da sich nunmehr eine vorwiegend auf
Agrarertrag zugeschnittene Wirtschaftsstruktur entwickelte. Nach
längerer Pause begann dann in der Frühen Neuzeit der
Abbau von Bleierzen und Galmei (Zinkerz zur Herstellung von
Messing) erneut und
setzte sich kontinuierlich bis zur Schließung der Erzgrube
Diepenlinchen im Jahr 1919 fort. Diese uralte Bergbautradition hat, wie
könnte es anders sein, auch im Sagengut des hiesigen Raumes einen
deutlichen Niederschlag gefunden.
Diepenlinchen, Gemälde
von Franz Hüllenkremer
Der Bezug zum Erzabbau bzw. zur Erzverarbeitung ist im Sagenbestand
unserer Region teilweise offenkundig, teilweise jedoch nur als
versteckte Andeutungen enthalten oder ergibt sich aus der
Interpretation bzw. aus dem montan-historischen Kontext des
Sagenmotivs.
Nachdem der Erzabbau in unserem heimischen Erzrevier seit nunmehr gut
100 Jahren ruht, ist das Bewusstsein für diese Tradition
weitgehend verloren gegangen. Konkrete Vorstellungen bezüglich der
Erscheinungsform hier geförderter Erze, der naturräumlichen
Gegebenheiten als Voraussetzung für die Erzentstehung und auch deren
Relevanz für die tradierte (überlieferte) Sagen- und
Vorstellungswelt sind, wenn überhaupt, nur noch in recht bescheidenem Maße
vorhanden.
Die Sagen unseres Raumes wurden von Heinrich Hoffmann mit viel Akribie
und Engagement gesammelt und 1914 unter dem Titel "Zur Volkskunde des
Jülicher Landes" publiziert. Hierunter befindet sich auch eine
größere Anzahl von Sagen, die einen Bezug zum
frühgeschichtlichen Erzbergbau erkennen oder vermuten lassen.
Fernerhin finden sich in der Literatur zu den Stolberger Erzen immer
wieder Hinweise auf den Zusammenhang mit den Sagen unseres Raumes, die
allerdings häufig fragmenthaft bleiben oder lediglich als
bloße Andeutungen formuliert sind.
Bei den von Hoffmann weitestgehend unverfälscht wiedergegebenen
Sagen handelt es sich um einfache, schlichte Erzählungen, die auf
sprachliche Ausschmückung gänzlich verzichten und somit
als typische Form der Volksüberlieferung angesehen werden
können. Der in seiner eigenartigen Ursprünglichkeit
dargebotene Sagenstoff kann durch die Diskussion der
regionalspezifischen Zusammenhänge sicherlich nur an Farbe und
Leben gewinnen.
Fernerhin wird angestrebt, die Sagenmotive, welche einen Bezug zum
Erzabbau bzw. zur Erzverarbeitung, vermuten lassen, in die allgemeine,
überregionale Sagen-Landschaft einzuordnen. Letztlich soll das
gesamte Beziehungsgeflecht unter möglichst vielen
unterschiedlichen Aspekten aufgezeigt und diskutiert werden, was
zwangsläufiger Weise zu einer Interpretation und Deutung des
Sagenstoffes führt. Bei der sicherlich subjektiven Auswahl der
Gesichtspunkte und der Beurteilung der Sagenmotive nach Inhalt und
Wertigkeit werden hinsichtlich Vollständigkeit und Systematik ganz
sicher manche Wünsche offenbleiben müssen.
Gelegentlich ist auch geäußert worden, dass die Ausdeutung
eines Sagenmotivs dem unmittelbaren Nachempfinden abträglich sei.
So schreibt bspw. H. Hoefling 1953: „Weitschweifige
Anmerkungen, die untersuchen, was wahr und was erfunden ist, habe ich
weggelassen. Sie zerstören den naiven Zauber, der von einer Sage
ausgeht“.
Trotzdem muss es erlaubt sein, Zusammenhänge und Bezüge
aufzuzeigen, insbesondere dann, wenn man die Sagen weniger als
Wert an sich, sondern als Erzähl-Gebilde betrachtet, in welchen
sich die frühere Gefühls- und Vorstellungswelt widerspiegelt.
Hierbei spielt allerdings die Frage, was wahr oder erfunden ist, eine
recht untergeordnete Rolle.
Eine Entzauberung des Sagenbestandes ist jedenfalls nicht beabsichtigt
und dürfte, angesichts der heute weitgehend fehlenden Präsenz im
allgemeinen Bewusstsein wenig wahrscheinlich sein. Möglicherweise
sogar besteht auch die Chance, zu einer weiteren Beschäftigung mit
diesem Themenkreis anzuregen.
Die Sage im allgemeinen, überregionalen Rahmen
Typischerweise sind Sagen einfache, schmucklose Erzähl-Gebilde,
die stets auch Elemente des Übernatürlichen enthalten. Im
Gegensatz zum Märchen sollen Sagen nicht als
„erfundene“ Geschichten verstanden werden, sondern als
Geschehnis- und Stimmungsberichte, die mit einem gewissen
Wahrheitsanspruch erzählt wurden (G. Heilfurth 1967).
Im Zusammenhang mit Sagenkomplexen mag ein Wahrheitsanspruch
zunächst überraschend erscheinen, jedoch ist die subjektiv
spürbare Gegenwärtigkeit des Übernatürlichen aus
der Sicht der Entstehungsepoche und der frühen Tradierung
(Überlieferung) durchaus als Wahrheit zu begreifen. Die
Faktizität (Tatsächlichkeit) innerhalb der Ebene der
geschilderten Umstände und Details ist natürlich nicht
gegeben und auch überhaupt nicht erforderlich. Der Wahrheitsgehalt
der Kernaussage, nämlich die Wiedergabe der damaligen
Vorstellungs- und Gefühlswelt wird in den Sagen
wahrheitsgemäß geschildert.
Während der Tradierung konnten auf Grund dieses
Wahrheitsanspruches Änderungen und Hinzufügungen im Sagengut
nur dann stattfinden, wenn diese allgemein als Wahrheit empfunden und
akzeptiert wurden. Es ist allerdings meist unmöglich, die
Entstehung einzelner Modifikationen eines bestimmten Sagenmotivs einer
bestimmten Zeitepoche zuzuordnen.
Willkürliche Änderungen und Ergänzungen des
Sagenstoffes wurden jedenfalls weitestgehend ausgeschlossen, da
dies dem
Wahrheitsanspruch widersprochen hätte.
Fernerhin muss auch berücksichtigt werden, dass der
„Erzähl“-Ablauf nicht von einem einzelnen
Erzähler und einer Vielzahl von passiven Zuhörern
geprägt wurde, sondern sich eher darstellte als gemeinsames
Reflektieren über Sagenmotive, deren Form und Inhalt der gesamten
Gruppe bekannt war. Die Vergegenwärtigung und Akzeptanz des
Übernatürlichen kann aus soziologischer Sicht durchaus als
Gruppenerlebnis aufgefasst werden, wobei der Einzelne im Ablauf des
täglichen Geschehens sehr viel weniger empfänglich gewesen
sein mag für Bezüge, Erscheinungen und Ausstrahlungen des
Übernatürlichen.
In der einschlägigen Literatur wird dann auch häufig von
Erzählstimmung gesprochen, die sich üblicherweise in
Mußestunden, bei Arbeitspausen oder bei der gemeinsamen
Verrichtung leichterer Arbeiten einstellte. Die frühere
Atmosphäre, die sich an Winterabenden in dörflichen
Spinnstuben einstellte, kann als typisches Beispiel gelten. Die
Formulierung, dass sich „Erzählstimmung einstellte“,
gibt den Sachverhalt recht gut wieder, denn Erzählstimmung musste
sich ergeben und war wohl nie Ergebnis bewusst geplanten Handels.
Die häufige Präsenz der typischen Erzählstimmung
lässt sich allerdings auch durch den Mangel an Gesprächsstoff
bzw. sonstiger Unterhaltungen erklären. Während Nachrichten
und Informationen aus der näheren und weiteren Umgebung nur
spärlich flossen, boten die Geschehnisse im täglichen
Einerlei des Dorflebens nur selten interessanten Gesprächsstoff.
Mit dem Vordringen von Zeitungen sowie später auch Funk und
Fernsehen und dem damit verbundenem Angebot von Informationen und
Unterhaltung ergaben sich die typischen Erzählsituationen immer
seltener, insbesondere auch deshalb, weil ein diesbezügliches
Bedürfnis kaum noch vorhanden war. Dies war nun allerdings nicht
der einzige Grund für das langsame Versiegen des
Tradierungsstromes. Die Druckmedien setzten eine Änderung des
intellektuellen Umfeldes voraus, die sich nicht nur darauf bezog, dass
man die Kunst des Lesens beherrschte. Mit den Ideen der Aufklärung
und Erneuerung änderte sich auch die Einstellung zu den Sagen und
den damit verbundenen Aspekten des Übernatürlichen.
Der Sagenstoff wurde teilweise bewusst umgestaltet, wobei sich entweder
Gruselgeschichten, pädagogisch überarbeitete oder dem
Zeitgeschmack angepasste, unterhaltsame Fassungen ergaben. Derartige
Änderungen bezogen sich sowohl auf den Stil als auch auf den
Inhalt der Sagenmotive.
Die Veränderungen im Bewusstsein, in der Einstellung und in den
überlieferungsrelevanten Verhaltensmustern konnten natürlich
nicht plötzlich stattfinden, sondern stellten sich nur ganz
allmählich und in Form fließender Übergänge ein.
Insbesondere während der Übergangszeiten ergaben sich
natürlicherweise Interdependenzen (wechselseitige
Abhängigkeiten und Beeinflussungen), die Eingang in die
mündliche Tradierung fanden. Aus heutiger Sicht muss man sagen,
dass es hierdurch zu manchmal groben Verfälschungen des
Sagenstoffes gekommen ist. Dieser Gefahr war man sich schon recht
früh bewusst, allerdings wurden die erforderlichen Konsequenzen
lange nicht immer gezogen. In diesem Zusammenhang ist ein 1815
geschriebenes Zirkular von Jacob Grimm aufschlussreich:
„Es ist vor allem daran gelegen, dass diese Gegenstände
getreu und wahr, ohne Schminke und Zutat, aus dem Munde des
Erzählenden, wo tunlich in und mit deren selbsteigenen Worten, auf
das genaueste und umständlichstes aufgefasst werden, und was der
lebendigen örtlichen Mundart zu erlangen wäre, würde
daher von doppeltem Wert sein, wiewohl auf der anderen Seite selbst
lückenhafte Bruchstücke nicht zu verschmähen sind. Denn
es können Abweichungen, Wiederholungen und Rezensionen einer und
derselben Sage im Einzelnen wichtig werden, und durch die
trügerische Meinung, dergleichen sei bereits gesammelt und
aufgezeichnet, darf man sich keineswegs eine Erzählung von sich
abzuweisen verleiten lassen; wie dem auch manches, was modern
erscheint, oftmals nur modernisiert ist, und seinen unverletzlichen
Grund unter sich hat.“
Versetzen wir uns nun wieder in die Zeit der traditionellen,
mündlichen Überlieferung, so wurden vorzugsweise solche
Sagenmotive überliefert, die irgendeinen Bezug zur jeweiligen
Dorfgemeinschaft aufwiesen. So ist es beispielsweise ganz typisch, dass
in bäuerlich geprägten Gegenden Sagen mit vorwiegend
bäuerlichen Motiven tradiert wurden. Als Anknüpfungspunkte
dienten hierbei häufig:
- Geschehnisse aus der Ortsgeschichte
- Bezüge zur täglichen Arbeit
- einsame und unheimliche Örtlichkeiten in der näheren Umgebung, wie Sümpfe, Moore, Schluchten, Höhlen etc.
Die Gesamtheit derartiger Gegebenheiten wird häufig als
Beziehungsrahmen bezeichnet. Ein Zusammenhang zwischen diesem
Beziehungsrahmen und dem überlieferten Sagenmotiv wird mitunter
sogar als unabdingbare Voraussetzungen für die Tradierung einer
Sage angesehen.
Diese Zusammenhänge können aber auch durchaus von recht
subtiler Natur sein. So genügte es manchmal, wenn sich der
Sagenstoff auf benachbarte Örtlichkeiten bezog, wobei das
eigentliche Sagenmotiv zum Beziehungsrahmen nicht unbedingt passen
musste.
Es kann also durchaus auch sein, dass ein bestimmtes Sagenmotiv
geschichtliche Fakten enthält, die über einen erstaunlich
langen Zeitraum überliefert worden sind. Hierbei ist eine
Tradierung vor- und frühgeschichtlicher Gegebenheiten des
öfteren anzutreffen und nachweisbar. Dies ist insbesondere auch
deshalb erstaunlich, da man das, was man faktische Geschichtserinnerung nennen
könnte, in traditionellen Überlieferungsgemeinschaften einen
Zeitraum von längstens drei Generationen überdeckte. Ereignisse,
Gegebenheiten und Geschehnisse, die sich irgendwann zum Sagenmotiv
entwickelten und „erzählt“ wurden, gerieten zwar auf
der Ebene der faktischen Geschichtserinnerung in Vergessenheit, lebten
aber offenbar als „Erzählgeschichten“ mit stark
unterschiedlichem Gehalt an objektiver, geschichtlicher Faktizität
fort.
G. Heilfurth weist auf diesen Zusammenhang wie folgt hin:
„Unfähigkeit zur Erinnerung kann der Volksüberlieferung
sicherlich nicht vorgeworfen werden. Die Tradition kann mit den
historisch gegebenen Tatsachen sehr genau übereinstimmen. Und
dort, wo die Übereinstimmung nicht wörtlich genommen wird,
zeigen die Sagen doch sehr oft eine große Treffsicherheit“.
Der stark unterschiedliche Wahrheitsgehalt in überlieferten
Ereignissagen verbietet natürlich eine Verwendung der
Sagenkomplexe als Quelle von historisch, geschichtlichem Wert.
Mit dem Hinweis auf mangelnde Unterhaltung und interessantem
Gesprächsstoff wurde bereits eine der Grundvoraussetzungen
genannt, die für die Entstehung und weiterer Tradierung von Sagen
sowie der dafür nötigen „Erzähl-Stimmung“
unabdingbar erforderlich waren. Eine weitere Voraussetzung war die
Bereitschaft einer bewussten Einbindung des Überwirklichen als
Teil der gesamten Lebenssituation.
Diese Bereitschaft.hing ganz entscheidend davon ab, in welchem
Maße man den Naturgewalten ausgesetzt war und wie bedrohlich
diese empfunden wurden. Die Verhältnisse in alpinen Grenzregionen
oder in Sumpf- bzw. Moorlandschaften mussten sehr viel bedrohlicher
wirken als dies in lieblicheren Landschaftstypen wie Flusstäler
oder fruchtbaren Ebenen der Fall gewesen ist.
Entsprechend der vorliegenden Gegebenheiten bildeten sich
regionalspezifische Sagenkreise, die sinnfälliger Weise auch als
Sagen-Landschaften bezeichnet werden. Diese unterscheiden sich zum Teil
ganz erheblich hinsichtlich ihrer Sagenmotive und auch hinsichtlich der Umstände, die für die Entstehung und
Tradierung anzunehmen sind.
Weitgehend unabhängig vom Landschaftstyp gab es nun aber auch
einzelne Berufsstände, die sich den Naturgewalten in erheblich
höherem Maße ausgesetzt fühlten als dies bei der
übrigen Bevölkerung der Fall war. Hier bildeten sich
berufsspezifische Sagenkreise aus, deren Verbreitung eher als
überregional zu sehen ist.
Als typisches Beispiel eines solchen Berufsstandes können die
Seefahrer gelten. Die unendliche Weite und unergründliche Tiefe
der Meere, das plötzliche Aufkommen von
gefährlichen Stürmen und Orkanen sowie die Einsamkeit auf
hoher See müssen als idealer Nährboden für das Entstehen
und Überliefen von Sagen mit ihren Elementen des
Übernatürlichen angesehen werden (beispiesweise Klabautermann).
Sagen mit montan-spezifischen (bergbaulichen) Bezügen
Die Bergleute bzw. Bergknappen zählten ebenfalls zu einem
Berufsstand, der auf Grund seiner exponierten Arbeitssituation (fernab
von Haus, Hof und Familie) vielfältige Sagenmotive hervor gebracht
und tradiert hat. Das Fluidum der absolut dunklen Schächte und
Stollen musste Aberglaube und Geistervorstellungen geradezu
provozieren. Dies gilt um so mehr, wenn man die Arbeitsbedingungen der
Bergleute mit in die Betrachtung einbezieht:
- drohende Gefahren bei der täglichen Arbeit
- Abhängigkeit von den Naturgewalten
- Unberechenbarkeit der Naturgewalten
- völlige Dunkelheit vor Ort
- tropfendes Wasser
- knackendes Gestein
Dies alles ergab eine Atmosphäre, in der man sich große,
furchterregende Gestalten vorstellte, die dann auch mit entsprechenden
Namen belegt wurden: Schacht-, Stollen-, Gruben- bzw. Berggeist oder
auch Bergmönch sowie Schatzmeister.
Allerdings gab es auch kleine Sagengestalten wie Zwerge, Wichtel oder
Kobolde, die gewissermaßen als Glücksbringer fungierten und
wohl auch einen ausgeprägten Bezug auf häufig wechselndes
Fundglück erkennen lassen.
Bezüglich ihrer Motive und Gestalten ist die Bergmannssage
außerordentlich vielschichtig. Zur Verdeutlichung sind im
Folgenden einige Sagenkomplexe angeführt, die meist untereinander
noch in enger Beziehung stehen.
Zwei dieser Sagenmotive bedürfen möglicherweise einer kurzen
Erklärung, da die verwendeten Begriffe nicht unbedingt eine
Vorstellung über den Inhalt dieser Sagenkreise zulassen.
Die Walen- (oder Venediger-) Sage berichtet über geheimnisvolle,
bergkundige Fremde, die Probeschürfungen vornehmen und nicht
selten auf reiche Bodenschätze stoßen. Gelegentlich
berichtet dieser Sagenkreis daüber, dass ein
einheimischer Bauer von einem dieser geheimnisvollen Fremden erfährt, ein
bestimmter Stein sei viel wertvoller als eine seiner besten Kühe.
Der Sagenkomplex vom Überleben verschütteter Bergleute
über lange Zeiträume enthält starke
religiöse Bezüge. Typischerweise erhält der
Verunglückte immer dann Brotgaben (meist von einem Engel) wenn
seine Frau bzw. Mutter im Gebet oder beim Empfang der Eucharistie
seiner gedenkt.
Insbesondere bei der in polnischen Bergwerken weit verbreiteten
Sagengestalt des Schatzmeisters wird deutlich, dass man sich den
Berggeist, die Bergmännlein, Zwerge und Kobolde als Hüter,
Verwalter oder Besitzer vorstellte. Überlieferungen, die sich auf
Zwerge und Berggeister beziehen, finden sich überall dort, wo
Bodenschätze jedweder Art gefördert, gefunden oder vermutet
wurden.
Die Zwergensage
Da innerhalb der montan-spezifischen Sagen unseres Lokalbereiches die
Zwergensage recht häufig zu finden ist, werden zunächst
einige allgemeine Anmerkungen zu diesem Sagenkomplex gegeben.
Gerade Zwerge waren stets Herrscher über unsagbar reiche
Schätze. Offensichtlich versuchte man, mit der imaginären
Existenz dieser Wesen den Bodenschätzen einen Sinn zu geben. Man
konnte und wollte sich anscheinend nicht vorstellen, dass die Natur mit
den Lagerstätten unterschiedlichster Art unermessliche
Reichtümer geschaffen haben sollte, ohne damit irgendeinen Sinn zu
erfüllen.
Der Versuch, über die Existenz geheimnisvoller Wesen eine
Begründung für das Vorkommen von nutzbaren und manchmal auch
nur reizvollen Mineralbildungen zu finden, mag uns in der heutigen Zeit
recht naiv vorkommen. Dennoch scheint diese Einstellung zu den von der
Natur dargebotenen Rohstoffen sympathischer zu sein, als die heute
vorherrschende, recht beziehungslose Auffassung, alle Lagerstätten
seien nur dazu da, möglichst schnell und rationell geplündert zu werden.
Die Vorstellung, dass Zwerge als Hüter unermesslich reicher
Schätze fungierten, ergab sich aus dem Wert und der Menge von
Fördergütern sowie aus den ästhetischen
Erscheinungsformen von Edelsteinen bzw. von sonstigen Mineralbildungen.
Hieraus folgend ist die imaginäre, aber durchaus subjektiv
spürbare Gegenwärtigkeit von Zwergen und Kobolden bei den
früheren Bergknappen ein gern gesehenes Phänomen gewesen. Häufig
wurden Zwerge sogar herbei gewünscht, da dort, wo sie sich
aufhielten, reiche Vorkommen zu vermuten waren.
Da sich Mineralien häufig in engen Klüften und Gebirgsspalten
gebildet haben, mussten die dort lebenden Zwerge von kleinem Wuchs
sein. Also stellte man sich Zwerge als kleine Bergleute vor, denn im
damaligen Bergbau wurden bevorzugt kleinwüchsige Leute
beschäftigt, die sich in den engen Stollen besser bewegen und
arbeiten konnten. Die damals übliche Arbeitskleidung der
Bergleute, die sogenannte Kapuzentracht wurde dann auch gleich mit in
das Vorstellungsbild übernommen, welches man sich von Zwergen
machte und bis heute fast unverändert erhalten geblieben ist. Das
heißt, unser viel belächelter Gartenzwerg mit seiner
Zipfelmütze leitet sich direkt vom Aussehen eines
spätmittelalterlichen Bergknappen ab.
Zwergensage im multikausalen Beziehungsgeflecht
Die Kapuze der früheren Bergleute hatte übrigens einen
durchaus praktischen Sinn. Der Bergmann konnte in den dunklen niedrigen
Stollen das Hangende (die Stollendecke) mit dem Zipfel seiner Kapuze
ertasten, ohne direkt mit dem Kopf anstoßen zu müssen.
Außerdem schützte die bis zu den Schultern
herabhängende Kapuze vor Tropfwasser.
Abbildung
Sächsisches Bergwerk
Der als Einzelblatt um 1530 entstandene Holzschnitt zeigt typische
Tätigkeiten im Montanwesen. Die Bergleute sind auch hier in
Kapuzentracht dargestellt und lassen uns heute unwillkürlich an
Zwergengestalten denken.
Zum Aspekt der „hilfsbereiten Geister“ in der Zwergensage
Obwohl die Bergleute manchmal von Zwergen geneckt und geärgert
wurden, werden sie in den entsprechenden Sagen eigentlich immer
als sympathische, hilfsbereite Kerlchen beschrieben. Nicht nur, dass
ihre subjektiv spürbare Anwesenheit als Indiz für wertvolle
Bodenschätze gedeutet wurde, sie waren auch in manch anderer
Hinsicht von Nutzen. So sollen sie beispielsweise den Bergknappen, die
sich an gefahrvoller Stelle aufhielten, mit Staub und feinkörnigem
Rieselgut beworfen haben. In diesem Zusammenhang muss – auch ohne
geistergläubig zu sein – auffallen, dass ein Stollenneibruch
sich eigentlich immer durch herabrieselndes Lockermaterial
ankündigt. Es handelt sich also hierbei um einen Aspekt aus der
bergmännischen Sagenwelt, der einen durchaus realen Bezug hat.
Auf Grund der den Zwergen unterstellten, guten Charaktereigenschaften,
wurden diese Kerlchen in manchen Sagen-Landschaften auch
„Gütel“ genannt (abgeleitet von gut).
Dieses Denkmuster steht übrigens ganz im Gegensatz zu den
Vorstellungen, die man bezüglich des Berggeistes entwickelt hatte.
Obschon auch dieser die Bergknappen gelegentlich unterstützte, war
er immer auch eine respekteinflößende, häufig furchterregende
und oft auch bösartige Gestalt. Manche Erzählungen bringen
den Berggeist sogar mit dem Teufel in Verbindung. Nach G. Heilfurth
(1967) finden sich vereinzelt auch Ansätze, die den
bergmännischen Ausdruck Teufe (für Tiefe) von Teufel ableiten
wollen.
Es gibt nun aber auch noch eine andere Spezies der Zwergensage, die
allerdings zunächst keinerlei bergbauliche Bezüge aufweist.
Gemeint ist hiermit die Geschichte von den Heinzelmännchen. Auch
in diesem Sagenmotiv werden die Zwerge bzw. Heinzelmännchen als
gute, hilfsbereite Geister beschrieben, die sich hauptsächlich
während der Nachtstunden in Haus und Hof nützlich machen. Als
Ursprung dieser Sagengestalten gelten die römischen Penaten,
kleine Hausgeister, die Haus, Hof sowie Herd bewachten und vor Unheil
schützten.
Während einiges dafür spricht, dass die Sagengestalten der
Penaten in den montanspezifischen Sagenkreis übernommen wurden,
kann das Sagenmotiv um die Bergmännlein jedoch eben so gut im
frühen Montanbereich originär entstanden sein. Im letzteren
Fall wären die kleinwüchsigen, südländischen
Bergleute als Urbild der in Felsspalten lebenden Zwerge anzunehmen.
Unabhängig davon, ob man die Penaten oder die kleinwüchsigen
Bergleute längst vergangener Zeiten oder aber beide als Ursprung
der Zwergensage ansieht, ist dieser Sagenkomplex ein gutes Beispiel
für die Fähigkeit der mündlichen Tradierung, selbst
frühgeschichtliche Zusammenhänge zu überliefern und zu
bewahren.
Auch wenn man annimmt, dass die bergmännisch geprägte
Zwergensage als eigenständiger Sagenkreis im Montanbereich
entstanden ist, dürfte das Element der hilfreichen Geister als
Teilaspekt aus der Penaten-Überlieferung übernommen worden
sein. Umgekehrt ist ebenso sicher, dass die typische, aus dem
bergmännischen Bereich kommende Kapuzentracht sich später
auch in den Heinzelmännchen-Erzählungen durchgesetzt hat.
Hinsichtlich der Kapuzentracht ist der Holzschnitt „Gericht der
Götter über den Bergbau“ (Judicium Jovis) aus dem
späten 15. Jahrhundert aufschlussreich, da er die Konflikte
zwischen bergbaulichem Tun und sonstigen Allgemeininteressen symbolisch
darstellt.
Überspitzt formuliert zeigt die Abbildung mittelalterliches
Umweltbewusstsein. Der Bergmann steht vor dem Thron des Himmelsgottes
Jupiter und ist angeklagt wegen Misshandlung der Mutter Erde im
allgemeinen und wegen Vernichtung von nutzbarem Agrarland im
besonderen. Die kleinwüchsigen Penaten sind helfend und
schützend um den Bergmann gruppiert, der in der damals
üblichen Arbeitstracht und mit seinem wichtigsten Werkzeug
(Schlägel und Eisen) dargestellt ist. Das Erscheinungsbild der
Penaten ist noch recht unspezifisch und lässt von der
späteren üblichen Zwergengestalt wenig erkennen.
Im Prinzip spiegelt sich in dieser Abbildung der uralte Konflikt
zwischen dem Agrarwesen und den bergbaulichen Aktivitäten wider.
Der etwas sehr selbstbewusste und in Montankreisen durchaus
übliche Spruch: „wo Erz ist zu vermuten, steht uns das
Schürfen frei“, dürfte kaum zu einer Entschärfung
dieses Konfliktes beigetragen haben.
Provoziert wurde dieser Konflikt nicht zuletzt durch die Landesherren,
die an Silber und Gold sehr viel mehr interessiert waren als an
Agrarprodukten.