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Inhaltsverzeichnis:

Anfang

Einführung

Vor undenklichen Zeiten

Und so hat es wohl begonnen

Erze und Metalle zur Frühzeit

Die Zeit der Kupfermeister

Kurzübersicht Frühindustrialisierung

Das Rösten der Erze

Die Zinkindustrie

Technische Entwicklungen in der Stolberger Zinkindustrie

Sodaherstellung und Chemische Fabrik Rhenania

Menschen, Technik und Sozialgefüge

Literatur- und Quellenverzeichnis

 

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Menschen, Technik und Sozialgefüge

Abschließend wäre es wohl höchste Zeit, einmal an die Menschen zu denken, an die Menschen und deren Lebensbedingungen, an die Arbeiter, die eingebunden waren in den Ablauf der Prozesse und Verfahren. Höchste Zeit auch, sich Gedanken zu machen über deren Schicksal, das vor lauter Technologiebeschreibung bisher viel zu wenig Berücksichtigung fand in unserer Standortgeschichte. Dabei aber gehörten sie eigentlich zu den Standortbedingungen und -gegebenheiten dazu, bildeten sogar - wenn man so will - selbst einen Standortfaktor. Und das wiederum ist überhaupt nicht in dem zynischen Sinn gemeint, dass man sich nämlich dieser Arbeiter nahezu beliebig bedienen konnte (was tatsächlich wohl auch der Fall gewesen ist). Nein, der Standortfaktor Mensch sollte hier einmal vor einem ganz anderen und gleichfalls ganz wichtigen Hintergrund gesehen werden.

Kompetenz und Verantwortung
Ob Sodaherstellung, Abrösten der Blende, Messingbrennen oder Austreiben von Messingblechen und Tiefwaren, all dies sind Verfahren, Prozesse und Arbeitsmethoden gewesen, die von höchst subtiler Natur waren, und zu deren Beherrschung nicht nur Körperkraft, sondern in hohem Maße auch Geschicklichkeit und Zuverlässigkeit erforderlich waren.

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Quelle: Krünitz (1802)
Vorbereiten und Austreiben von Messingblechen zu Tiefwaren.

Wenn man nun in der zeitgenössischen Literatur der letzten Jahrhunderte manchmal den Hinweis findet, die Stolberger seien der Arbeit nicht sonderlich zugetan gewesen, so muss man sich fragen, wer denn wohl den gleichförmigen und sachgerechten Ablauf all dieser subtilen Prozesse sichergestellt hat, und wer denn bitte den hier hergestellten Produkten durch Einsatz von Körperkraft und verlässlicher Geschicklichkeit einen guten, fast weltbekannten Ruf verschafft hat.

Und damit wir uns richtig verstehen, automatische Prozess-Steuerung bzw. Prozessregelung hat es damals noch nicht gegeben, und Produktqualität sowie wirtschaftlicher Erfolg hingen wahrscheinlich in noch viel höherem Maße als heute von den Arbeitern direkt vor Ort ab.

Arbeit, Mühsal, Armut
Arbeitsscheu, faul und ungeschickt können sie also kaum gewesen sein, die alten Stolberger, und abhängig war man auch von ihnen; von ihrem Einsatz, ihrer Geschicklichkeit und ihrer Zuverlässigkeit. Aber trotzdem, bezahlt wurden sie schlecht, wie das damals (nicht nur in Stolberg) so üblich war, und arm sind sie auch gewesen, die Galmeischürfer, Kupferschläger, Ofenknechte und die Arbeiter zur Zeit der beginnenden Industrialisierung.

Arbeit und Brot, so sagt man, habe das Stolberger Tal mit seinen Standortfaktoren einer ganzen Region gegeben, und das ist durchaus richtig; richtig sogar im wörtlichen Sinn, denn für die Wurst hat es selten, eigentlich fast nie gereicht, wenn man von einer kleineren Minderheit einmal absieht.

Arm und reich, ein krasser Gegensatz
Es ist wohl durchaus selbstverständlich, dass man die äußerst günstigen Standortbedingungen, welche die Natur durch das Zusammenwirken vieler glücklicher Umstände entstehen ließ, hier in Stolberg auch genutzt hat. Es ist fernerhin auch noch einsichtig oder zumindest verständlich, dass man im Zuge dieser Nutzung und zur Erzielung wirtschaftlichen Erfolgs die Umwelt in ganz erheblichem Maße belastet hat.

Sehr viel weniger einsichtig allerdings ist die Tatsache, dass nur eine ganz kleine Minderheit den Hauptvorteil aus der Nutzung der natürlichen Gegebenheiten zog; aus Gegebenheiten, deren Entstehung und Vorhandensein keineswegs das Verdienst von Menschen und erst recht nicht das Verdienst einer bestimmten Gruppe von Menschen gewesen ist. Und wenn man schon die Luft verpestete, die Atemluft, die für ausnahmslos alle da war, so hätte man auch ausnahmslos alle am wirtschaftlichen Erfolg partizipieren lassen müssen. Oder wie ist im Zusammenhang mit der Nutzung der Wasserkraft das Bibelwort zu verstehen, "der Herr lasse es regnen über Gerechte und Ungerechte, über Arme und Reiche"? Man wird sich wohl gedacht haben, dass der Herr es in der Tat über alle regnen ließ, über alle gleich viel sogar, nur hat es für und zum Nutzen der Kupfer- und Reitmeister immer sehr viel mehr geregnet als für alle anderen.

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Der Kupferhof Rosental, als Beispiel einer repräsentativen Hofanlage.
Foto: F. Holtz

Nun könnte man natürlich einwenden, dass es sich mit der Verteilung des erwirtschafteten Wohlstandes auch heute noch ganz ähnlich verhält. Aber erstens werden die Verhältnisse nicht alleine deswegen einsichtiger, weil sie immer schon so waren, oder weil sie heute fast unverändert fortbestehen und mit einiger Wahrscheinlichkeit in Zukunft nicht anders sein werden. Für unsere Betrachtung viel wichtiger aber ist zweitens die Tatsache, dass die damalige Armut und die damaligen Lebens- und Arbeitsbedingungen mit den heutigen Verhältnissen überhaupt nicht mehr zu vergleichen sind.

Und diese Tatsache darf man sicherlich nicht aus den Augen verlieren, auch wenn man vorwiegend über Technologien und über technische Abläufe berichtet, denn die Menschen waren hiervon immer auch ganz direkt betroffen. Und unter welchen Bedingungen sie ihrer Arbeit nachgehen mussten, können wir uns heute nicht mehr vorstellen, geschweige denn nachempfinden. Der bereits beschriebene Natriumsulfatofen war ein ganz besonders krasses Beispiel für geradezu unmenschliche Arbeitsbedingungen, die man bei sachlich objektiver Betrachtungsweise als extrem, bei einfühlsamer Betrachtungsweise eher als höllisch bezeichnen müsste.

Arbeit direkt am Höllenschlund
Möglicherweise wird man sich erinnern können, dass beim Umsatz von Kochsalz und Schwefelsäure zu Natriumsulfat Salzsäuregas freigesetzt wurde, das man in Touril-Systemen zu Salzsäure kondensierte. Zum "Umkrücken" und Abziehen der eingesetzten Charge waren diese Öfen mit Arbeitsöffnungen versehen, durch welche ein Teil des Salzsäuregases entweichen konnte. Diesem entweichenden Salzsäuregas waren die Arbeiter (zusätzlich zu der fast unerträglichen Hitze) ausgesetzt. Das stark ätzende Gas verursachte offene, schlecht heilende Wunden vorwiegend an Händen und Armen, und - schlimmer noch - es zerfraß die Zähne und die Mundschleimhäute. Natriumsulfat-Arbeiter, die im deutschen Sprachraum "Salzkuchen-Männer" genannt wurden, waren auf den ersten Blick zu erkennen, weil ihre Zähne schwarz wie Kohlen aussahen.

Was Hitze und körperliche Belastung anbelangte, waren die Arbeitsbedingungen am Soda-Ofen auch nicht besser. In Stolberg allerdings hat man sehr früh schon mechanisierte Natriumsulfat- und Soda-Öfen eingesetzt, die nicht nur rationeller waren, sondern auch bezüglich der Arbeitsbedingungen entscheidende Vorteile brachten. Andernorts ist es freilich häufig so gewesen, dass die Handöfen länger in Betrieb waren als dies von den technischen Möglichkeiten her erforderlich gewesen wäre. Ursache dafür waren die hierzu erforderlichen Investitionskosten, die sich bei dem niedrigen Lohnniveau nicht schnell genug amortisierten.

Den Messingbrennern, den Ofenknechten zur Zeit der Kupfermeister ist es allerdings auch kaum besser ergangen. Sie mussten sich in Lumpen hüllen, damit sie von der Ofenglut nicht bei lebendigem Leib gebraten wurden (Zitat Pöllnitz). Und von der bitteren Armut der Galmeischürfer, die jedes kleinste Stückchen Galmei ausgeklaubt haben, von jenen 'Unglückseeligen, so diesen Metallischen Stein aus dem Innersten der Erde langen' ist ja auch schon die Rede gewesen und ebenfalls von den Gefahren in den schlecht ausgebauten Schürfstellen.

Man sieht also, die Nutzung unserer Standortvorteile war immer und zu allen Zeiten mit Anstrengung, Mühe, Beschwerlichkeiten und Gefahren verbunden, auch wenn die natürlichen Voraussetzungen fast ideal waren.

Abschließend bleibt vielleicht jetzt noch die Frage, was denn aus all den schönen Standortvorteilen mittlerweile geworden ist und welche dieser Standortfaktoren wohl heute noch relevant sind. Mit den Erzen und mit der Kohle ist es lange schon vorbei, und die einst so wichtige Wasserkraft der Vicht kann man heute eigentlich nur noch belächeln. Aber trotzdem ist Stolberg nach wie vor eine Industriestadt geblieben mit einer Vielzahl erfolgreich operierender Unternehmen.

Das liegt sicherlich zum Teil daran, dass bei den heute verfügbaren Verkehrssystemen und den problemlosen Transportmöglichkeiten (z.B. elektrischer) Energie die Standortfaktoren lange nicht mehr die dominante Rolle spielen, wie das in früherer Zeit gewesen ist. Und bezüglich derartiger Infrastrukturen schneidet Stolberg auch gegenwärtig nicht schlecht ab.

Es dürfte ebenfalls unstrittig sein, dass eine Verlagerung von in Stolberg gewachsenen Produktionsstätten riesige Investitionsmittel erfordern würde, so dass man aus diesem Grund schon eine begrenzte Mobilität der Unternehmen unterstellen kann.

Aber ein möglicherweise entscheidender Standortfaktor scheint dennoch geblieben zu sein, der Standortfaktor Mensch nämlich. Denn Menschen auf allen Hierarchie-Ebenen waren es, die Fertigkeiten, Erfahrungen, Kenntnisse und 'know how' über Generationen weitergegeben haben und weitergeben werden, wobei der Begriff Generationen sehr viel weniger im Sinne von Familiengenerationen als vielmehr im Sinne von Belegschaftsgenerationen zu verstehen ist.

Gleichgültig ob man diesen Faktor der Infrastruktur oder den Standortbedingungen zuordnen will, diese Menschen stellen eine Ressource dar, die man in ihrer Gesamtheit nicht beliebig verlagern kann, und die gleichermaßen hoffen lässt auf eine positive zukünftige Entwicklung.

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