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Inhaltsverzeichnis:

Anfang

Einführung

Vor undenklichen Zeiten

Und so hat es wohl begonnen

Erze und Metalle zur Frühzeit

Die Zeit der Kupfermeister

Kurzübersicht Frühindustrialisierung

Das Rösten der Erze

Die Zinkindustrie

Technische Entwicklungen in der Stolberger Zinkindustrie

Sodaherstellung und Chemische Fabrik Rhenania

Menschen, Technik und Sozialgefüge

Literatur- und Quellenverzeichnis

 

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Die Zeit der Kupfermeister

Wie bei der Betrachtung der Energiebedürfnisse schon angedeutet, wurden die hiesigen Galmeivorkommen in nach-römischer Zeit zuerst wieder von den Kupfermeistern genutzt, allerdings erst nach einer langen, langen Pause. Mit dem Eindringen der Franken nämlich kamen Erzabbau und - verarbeitung zunächst völlig zum Erliegen, da sich nunmehr eine vorwiegend auf Agrarertrag ausgerichtete Wirtschaftsstruktur entwickelte. Erst im 10. Jahrhundert scheint das Messinggewerbe im Bereich unserer Erzgangzüge erneut eine nennenswerte Bedeutung erlangt zu haben. Allerdings hat diese nach-römische Epoche nicht in Stolberg begonnen, sondern im Maastal, vornehmlich in den Städten Dinant und Huy. Ganz ähnlich wie hier bei uns gab es im Maastal auch Galmeivorkommen, und die Lagerstättenverhältnisse waren mit denen von Stolberg fast identisch, ganz einfach schon deshalb, weil sie der gleichen Paragenese zuzurechnen sind.

Der bereits erwähnte Wechsel von gegossenen zu ausgehämmerten, getriebenen Messingwaren war in Dinant und Huy schon ganz zu Anfang eingetreten, und eben diese getriebenen Messingprodukte sollten über Jahrhunderte kennzeichnend bleiben für die Messingverarbeitung in unserem Raum. In Anlehnung an den Herkunftsort Dinant stand und steht der Begriff 'Dinanderien' auch heute noch als Synonym für kunstvoll getriebenes Messinggerät.

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Kerzenleuchter aus getriebenem Messingblech (Dinanderien) in der alten Abteikirche Kornelimünster.
Fotos: F. Holtz

Kriegerische Auseinandersetzungen mit dem Herzog von Burgund und seinem Sohn (später Karl der Kühne genannt) führten 1466 zur Zerstörung der Messingstädte an der Maas. Die (Kupfer-) bzw. Messing-Schläger, die so genannten Batteurs, siedelten sich unter anderem in der Freien und Reichsstadt Aachen an und leiteten somit, zunächst nur für Aachen, die Epoche der Kupfermeister ein.

Mit dem kurz vor den Toren Aachens gelegenen Altenberg stand eine außergewöhnlich ergiebige Galmeilagerstätte zur Verfügung, die zudem auch qualitativ hochwertigen Galmei lieferte. Möglicherweise sogar haben Ergiebigkeit und Reichhaltigkeit der Erzmittel vom Altenberg auch einen Wandel bezüglich der Einstellung und Wertvorstellung zu dem Werkstoff Messing bewirkt, der zunehmend als Gebrauchsmetall und nicht mehr so sehr als Ziermetall angesehen wurde. In der Tat lässt sich sagen, dass in Aachen, sowie auch später in Stolberg, überwiegend Gerätschaften des täglichen Gebrauches produziert und in sehr viel geringerem Maße Kunstgegenstände gefertigt wurden, als dies vorher in Dinant der Fall gewesen war. Für die Gilde der Töpfer in Raeren, Langerwehe und Frechen allerdings hatte genau dieser Wandel fatale Konsequenzen. Das in großen Stückzahlen hergestellte Messinggerät war deutlich leichter, sehr viel handlicher und vor allen Dingen weniger zerbrechlich als Töpferwaren, die zunehmend vom Markt verdrängt wurden.

Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wanderten die fast ausschließlich protestantischen Aachener Kupfermeister nach Stolberg aus, weil sie sich mit der einsetzenden Gegenreformation zunehmend Repressalien ausgesetzt sahen. Und dieser Kausalsatz, genau diese Begründung nämlich, könnte den Eindruck entstehen lassen, dass der Messingstandort Stolberg eigentlich nur zweite Wahl gewesen sei, da die aus Aachen vertriebenen Kupfermeister sich ja zwangsläufigerweise irgendwo - warum also nicht auch in Stolberg - ansiedeln mussten.

Religion und Standortfaktoren
Der Eindruck, Stolberg könne für die Kupfermeister eine Verlegenheitslösung gewesen sein, dieser durchaus mögliche Eindruck wäre nun aber völlig falsch. Diese Auffassung ist einerseits gänzlich unstrittig, deutet andererseits aber auch auf eine gewisse Unstimmigkeit in der Argumentation hin, wenn man als einzige Begründung angibt, die Kupfermeister hätten Aachen aus religiösen Gründen verlassen. In der Tat waren die Standortvorteile in Stolberg so evident, dass man sich manchmal in der Literatur schwer damit getan hat, die religiösen Motive der Kupfermeister bei der Umsiedlung nach Stolberg glaubwürdig darzustellen.

Eines aber ist ganz klar, die Kupfermeister befanden sich in Aachen zeitweise in einer sehr schwierigen, bedrohlichen Situation. Man denke nur an den Erlass des 'Eselsbegräbnisses', wonach die Protestanten nicht ordentlich begraben, sondern wie ein Stück Vieh verscharrt werden sollten.

Aber was denn eigentlich ließ die protestantischen Kupfermeister hoffen, in Stolberg ihre Religion ungestört ausüben zu können, in einem Gebiet, dessen Landesherren der Abt von Kornelimünster, der Herzog von Jülich und zu einem kleineren Teil die Stolberger Lehensherren eben jener Jülicher Herzöge waren, die aus antiprotestantischer Gesinnung die Kupfertransporte nach Aachen widerrechtlich sperrten. Auch dem Abt von Kornelimünster konnte sicherlich nicht ohne weiteres unterstellt werden, mit den Protestanten zu sympathisieren.

Trotz dieser Unstimmigkeiten haben wir eine Tatsache hinzunehmen, den Fakt nämlich, dass die protestantischen Kupfermeister in Stolberg offenbar willkommen waren und dort in Frieden ihrem Gewerbe sowie ihrer Religion nachgehen konnten, alles Dinge also, die in Aachen auf Dauer jedenfalls nicht möglich gewesen waren. Man wird nun sicher einwenden können, dass die Landesherren durch die (damals wie heute) üblichen Abgaben ganz beträchtliche wirtschaftliche Vorteile gehabt haben, aber das hätte eigentlich gleichermaßen auch für Aachen gelten müssen.

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Vogelsangkirche
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Finkenbergkirche
Evangelische Kirchen in Stolberg
Fotos: F. Holtz

Diese nicht ganz von der Hand zu weisenden Unstimmigkeiten scheinen durchaus auflösbar, wenn man die Standortfaktoren, und hiervon insbesondere die Wasserkraft, etwas näher und detaillierter betrachtet. Auflösbar scheinen die erwähnten Unstimmigkeiten übrigens sogar in einem Sinn, der Standortfaktoren zwar mit ins Kalkül einbezieht, den Kupfermeistern jedoch religiöse Motive bei der Übersiedelung überhaupt nicht abspricht.

Wie bereits erwähnt, wurden in Aachen erstens fast ausschließlich getriebene Messingwaren und diese wiederum zweitens als Gebrauchsgegenstände des täglichen Bedarfs in zunehmend großen Stückzahlen hergestellt. Wenn man nun bedenkt, dass nach dem Brennen des Messings zunächst relativ dicke Platten gegossen wurden, die bei der Herstellung von Fertigprodukten auf Blechstärke ausgehämmert werden mussten, so ist sofort einsichtig, dass eine Mechanisierung dieses Aushämmerns sicherlich sehr vorteilhaft gewesen wäre.

Hierzu hätte es allerdings mechanischer Antriebskraft bedurft, die sich in ausreichender Menge eigentlich nur aus der Wasserkraft der Bachläufe gewinnen ließ. Nun wurde dieses Wasser jedoch bereits völlig von anderen Gewerbezweigen (von den Tuchmachern beispielsweise) genutzt. Es bestand sogar ein Verbot, wassergetriebene Hammerwerke zum Austreiben des Messings zu errichten bzw. zu betreiben.

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Skizze: F. Holtz

Mit diesem Verbot, so sollte man meinen, hätten die Aachener Unternehmer, welche die Wassergerechtsame innehatten, eigentlich zufrieden und vollkommen beruhigt sein können. Es wäre allerdings durchaus ebenso vorstellbar und auch recht naheliegend, dass diese Unternehmer um ihr Privileg fürchteten. Diese Furcht wäre sogar sehr verständlich, denn die Kupfermeister waren wirtschaftlich sehr gut gestellt, nicht ohne politischen Einfluss und auch im Stadtrat - zeitweise sogar stark überproportional - vertreten. Die Gilde der Kupfermeister war also ein wirtschaftlicher und politischer Faktor, mit dem man rechnen musste und der im Falle eines Interessenkonfliktes sehr wohl auch Anlass zu Befürchtungen geben konnte.

Ein Interessenkonflikt lag aber zweifelsohne vor, ein Interessenkonflikt, der durch die Strömungen der Gegenreformation offensichtlich eine ganz andere, nämlich eine politische und religiöse Dimension erhielt. Es ist durchaus fraglich, ob die Gegenreformation für die Kupfermeister in Aachen ähnlich ernste Konsequenzen gehabt hätte, wenn dieser Konflikt um Einfluss, Macht und Wasserkraft nicht bestanden hätte. Man erkennt das auch daran, dass ganz kurz bei Aachen, im oberen Vichttal nämlich, die teilweise ebenfalls protestantischen Eisenhüttenleute, die so genannten Reitmeister auch während der Gegenreformation nahezu unbehelligt blieben, obschon sie sich im Gebiet der Jülicher bzw. Kornelimünsterischer Herrschaft befanden.

Die Querelen und Auseinandersetzungen um Einfluss, Macht und Ressourcen scheinen selbst in Aachen von beiden Seiten nicht mit letzter Konsequenz ausgetragen worden zu sein, wie das eigentlich für einen Konflikt mit radikal-religiösem Hintergrund typisch wäre. Während sich auch in der Reichsstadt Tendenzen einstellten, die abwandernden Kupfermeister und ihre Wirtschaftskraft an Aachen zu binden, behielten die 'vertriebenen', nunmehr in Stolberg ansässigen Kupfermeister teilweise sogar Niederlassungen in Aachen, was ihnen die Möglichkeit gab, die Handelsvorteile der freien Reichsstadt zu nutzen, wobei diese Niederlassungen im protestanten-feindlichen Aachen durchaus geduldet wurden. Geduldet wahrscheinlich deshalb, weil sich mit der Auswanderung der Kupfermeister der bestehende Interessenkonflikt aufzulösen begann; ein Konflikt, der einerseits offensichtlich bestimmt war durch Wirtschaftsinteressen, der sich andererseits jedoch in seinen Auswirkungen für die Kupfermeister als Unterdrückung darstellen musste. Einen ähnlichen Konflikt, wenn auch ohne den ideologisch eingefärbten Aspekt unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, hat es sehr viel später auch in Stolberg gegeben. Diesmal allerdings ging es um den Zugriff auf die knapper werdende Holzkohle, die sowohl von den Kupfermeistern als auch von den Reitmeistern gleichermaßen dringend benötigt wurde. Aus rein betriebswirtschaftlichen Gründen, worauf später noch näher einzugehen sein wird, saßen jetzt aber die Kupfermeister am längeren Hebel, und diese scheuten sich überhaupt nicht, ihre protestantischen, eisenschaffenden Glaubensbrüder aus dem Vichttal zu verdrängen, indem sie die knapper werdende Holzkohle zunehmend für ihr Messinggewerbe vereinnahmten.

Die Standortvorteile
Verbleiben wir aber zunächst noch bei der Auswanderung der Kupfermeister von Aachen nach Stolberg. Im neuen Siedlungsgebiet, im Stolberger Tal also, stellte sich die Situation gänzlich anders dar als in Aachen. Die Wasserkraft des Vichtbaches wurde nur im Obertal von den Eisenhüttenleuten genutzt und stand im mittleren bzw. unteren Talabschnitt noch weitgehend zur freien Verfügung. Bei dieser Konstellation konnte den jeweiligen Landesherren aus wirtschaftlichen Gründen eine Ansiedlung nur recht sein.

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Vichtbach, Detail aus dem Vichttalplan von E. Walschaple.

Neben der Wasserkraft gab es auch die bereits erwähnte Holzkohle, die sich aus den anfangs reichlich, später jedoch nur noch spärlich vorhandenen Buchenwaldbeständen der nördlichen Eifel gewinnen ließ.

Der Bedarf an Heizmaterial (Klafterholz und später fast nur noch Steinkohle) zum Beheizen der Schmelzöfen wurde durch die waldreiche Umgebung bzw. durch die Steinkohlevorkommen im Norden Stolbergs abgedeckt.

Es gab nun aber, wie sich nach der Beschreibung der Erzlagerstätten denken lässt, noch einen weiteren, eigentlich sogar 'den' entscheidenden Standortfaktor überhaupt. Und dieser bei weitem wichtigste und entscheidende Standortvorteil war gekennzeichnet durch kurze und günstige Transportwege zu dem unentbehrlichen Betriebsstoff Galmei, der erstens den mengenmäßig weitaus dominanten Bedarfsanteil abdeckte, der zweitens in und um Stolberg in den Kalksteinzügen zu finden war, und der sich zudem drittens auf Grund der Lagerstättenverhältnisse relativ leicht und problemlos abbauen ließ.

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Skizze: F. Holtz

Es war also, lässt sich zusammenfassend sagen, im Stolberger Tal alles Notwendige vorhanden; alles, außer Kupfer, welches hauptsächlich aus den Lagerstättengebieten des Mansfelder Kupferschiefers herangeschafft werden musste.

Aber dieser Kupfertransport war das kleinere Übel, weil man zur Messingherstellung, bezogen auf das eingesetzte Kupfergewicht, doppelt so viel Galmei benötigte. Und hauptsächlich diese Gewichtsmengenverhältnisse, zusammen natürlich mit den anderen Standortgegebenheiten, waren verantwortlich für den Erfolg des Messinggewerbes. Die Entwicklung verlief, gestützt durch eben diese Standortvorteile, in unserer Region so günstig, dass man bald schon alle damals bekannten Absatzmärkte beherrschte und im 18. Jahrhundert eine monopolartige Stellung innehatte.

Dieser Erfolg und die dahinterstehenden Produktionsaktivitäten nahmen natürlich auch Ressourcen in Anspruch; Ressourcen, die eigentlich nie und nirgendwo in unbegrenztem Umfang zur Verfügung stehen. Und so musste sich auch im Stolberger Tal die vorgegebene Limitierung der natürlichen Ressourcen irgendwann bemerkbar machen. Es wurde ganz einfach zu eng am Vichtbach weil die verfügbare Wasserkraft auch hier nicht mehr ausreichte. Man musste also ausweichen und den Münsterbach (gemeint ist hiermit, entsprechend der früher üblichen Terminologie, der Oberlauf der Inde), den Unterlauf der Inde und auch die Antriebskraft der Wehe mit in die Nutzung einbeziehen. Hierzu mussten natürlich Kupferhöfe und Hammermühlen entlang dieser Bachläufe errichtet werden.

Wenn wir also rückblickend die ganze Weitläufigkeit des Siedlungsgebietes der Kupfermeister betrachten, die geographische Ausdehnung der Messingregion sozusagen, und dabei berücksichtigen, dass zur Abdeckung der erforderlichen Antriebskraft genau diese Weitläufigkeit zwingend erforderlich war, können die Streitigkeiten im engen Aachen sowie deren Verlauf und Ausgang kaum noch als relevant für die weitere Entwicklung angesehen werden. Gleichgültig ob diese Streitigkeiten vorwiegend oder nur vordergründig religiösen Hintergrund hatten, die Entwicklung und Zukunft der Messingfabrikation und somit der Kupfermeisterfamilien selbst konnten innerhalb der Stadt Aachen nicht abgesichert werden. Ob mit oder ohne Interessenkonflikt und unabhängig davon, welcher Art dieser Konflikt auch gewesen sein mag, die Kupfermeister hätten Aachen im Laufe der Entwicklung ohnehin verlassen müssen, um ihren Hunger nach mechanischer Antriebsenergie dort zu stillen, wo dies mit den damals zu Gebote stehenden Methoden möglich war: an den Bachläufen unserer Region.

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Die Jan Ravens Mühle
um 1544
Aquarell nach Walschaple von G. Dodt

Berücksichtigt man nun noch die geographische Verteilung der Galmeilagerstätten, so ist der Standort Stolberg eben nicht zweite Wahl (nach und gemessen an Aachen) gewesen, sondern war im Gegenteil ganz hervorragend geeignet, wie ja auch die weitere Entwicklung gezeigt hat. Wenn nun aber neben und nach dem Vorhandensein des Galmeis die Wasserkraft von so entscheidender Bedeutung gewesen ist, dürfte es sicherlich von Interesse sein, die Wasserkraft am Beispiel des Vichtbaches einmal quantitativ abzuschätzen, um zumindest einmal eine grobe Vorstellung von der Grössenordnung zu erhalten. Im Folgenden soll daher versucht werden, den Energiebeitrag überschläglich zu bestimmen, den der Vichtbach geliefert hat und von dem einerseits sowohl die Kupfermeister als auch die Reitmeister profitierten, den sie sich andererseits jedoch auch teilen mussten.

Die Wasserkraft der Vicht
Zunächst einmal ist völlig klar, dass der Vichtbach gespeist wird aus einem Gebiet, das nahezu vollständig der niederschlagreichen Vennfußfläche zuzurechnen ist. Obschon uns diese Tatsache auf Grund der Erfahrung manch trüber Tage sicherlich bewusst ist, machen wir uns normalerweise wenig Gedanken darüber, dass genau diese Tatsache auch Teil eines komplexen Geflechtes ist, das wir in seiner Gesamtheit eben 'Standortbedingungen' nennen.

Aus lauter Freude an der Wasserkraft und an den hier beginnenden Eifelbergen, welche erstens die von See kommenden Wolken emportreiben sowie zum Abregnen veranlassen, und welche zweitens für ein leistungsbringendes Gefälle der Bachläufe sorgen, sollten wir einen ebenfalls wichtigen Aspekt auch nicht vergessen: Die Tatsache nämlich, dass sich das Stolberger Tal gegen Norden hin zur Rheinischen Tiefebene öffnet. Die Bäche fließen hier erheblich ruhiger und sind auf Grund des geringeren Gefälles als Energieträger sehr viel weniger geeignet. Dafür aber ist das Flachland zum Warentransport natürlich günstiger als das recht unzugängliche Bergland der Eifel. Leistungsbringendes Gefälle und transportgünstiges Flachland, zwei Standortfaktoren, die sich gegenseitig ausschließen, deren Vorteile sich jedoch beide nutzen lassen, wenn der Standort - wie in Stolberg - auf der Nahtstelle der beiden Landschaftsformen liegt.

Im Prinzip ist nun eine Abschätzung der Vichtbachenergie sehr einfach. Man braucht nämlich nur den Höhenunterschied (das Gefälle also) und die Wasserführung (Wasservolumen pro Zeiteinheit) zu wissen. Wer aber den Vichtbach kennt, weiß, dass er manchmal (nach längeren Regenperioden) zum reißenden Strom wird, oft als ruhig dahinplätschernder Bach das Tal durchzieht oder vorzugsweise im Sommer zum spärlichen Rinnsal werden kann. Angesichts dieser extrem wechselnden Verhältnisse ist die Abschätzung einer durchschnittlichen oder einer für den Jahresverlauf repräsentativen Wasserführung natürlich nicht mehr ganz so einfach. Glücklicherweise hatte das Staatliche Amt für Wasser- und Abfallwirtschaft im Bereich Platenhammer - Jägersfahrt (zwischen Vicht und Zweifall) einen Messpegel installiert und stellte die dort während eines Zeitraumes von über 20 Jahren gesammelten Messwerte freundlicherweise zur Verfügung. Damit nicht genug, die Ergebnisse waren sogar so aufbereitet, dass eine auf unsere Fragestellung zugeschnittene Interpretation möglich wurde.

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Skizze: F. Holtz

Bei Hochwasserführung erreicht der Vichtbach Abflussmengen von weit über 10.000 Litern pro Sekunde (siehe Graphik). Wer sich dieses Naturschauspiel einmal angesehen hat, wird eigentlich sofort einsehen, dass diese reißenden, brodelnden Wassermassen im Sinne einer technisch beherrschbaren Nutzung nicht zu bändigen waren und für die Energiegewinnung kaum in Frage kamen. Selbst wenn eine technische Nutzung mit Hilfe einer Vielzahl von riesigen Mühlrädern in Verbindung mit gewaltigen Arbeitsmaschinen möglich gewesen wäre, hätten derartig gigantische Anlagen wirtschaftlich überhaupt keinen Sinn gemacht, da sie nur wenige Tage im Jahr (nämlich bei extremer Hochwasserführung) zu betreiben gewesen wären.

Auslegung der Antriebe
Man musste also schon bei der Auslegung der Antriebe und Arbeitsmaschinen eine wirtschaftlich vertretbare, vernünftige Größenordnung finden, die nicht nur wenige Tage im Jahr nutzbar war, sondern ein möglichst günstiges Kosten/Nutzen-Verhältnis gewährleistete. Die erwähnte Auslegung bezog sich übrigens nicht nur auf die Mühlräder selbst, sondern zwangsläufigerweise auch auf die Anlage der Wassergräben (Mühlteiche), auf die Konstruktion bzw. Anzahl der Arbeitsmaschinen und beeinflusste somit die Höhe der Erstellungskosten ganz erheblich.

Die maximal nutzbare Leistung und somit auch die durchschnittliche Jahresleistung hing also auch entscheidend von der Auslegung der installierten Wasserkraftanlagen ab. Man konnte nämlich bei entsprechend großem Wasserangebot die Mühlräder nicht beliebig schneller drehen lassen, denn bei einem Hammerwerk beispielsweise wäre den Hämmern irgendwann nicht mehr genügend Zeit verblieben, auf den Amboss zurückzufallen. Das Erreichen eines derartig unsinnigen Betriebszustandes wäre vermutlich allerdings ein Glücksfall gewesen, denn lange vorher schon wären die Antriebswellen oder die Antriebsnocken oder die Hammerstiele auf Grund der auftretenden Beschleunigungskräfte wahrscheinlich zu Bruch gegangen. Es blieb also nichts anderes übrig, als bei Hochwasser das vorhandene Energiepotential ungenutzt vorbeirauschen zu lassen.

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Hammerwerk nach Krünitz

Jetzt taucht natürlich sofort die Frage auf, für welche maximale Wasserführung bzw. Leistung die Mühlenanlagen wohl ausgelegt waren. Diese Frage lässt sich heute nur noch über eine Abschätzung der Wirtschaftlichkeit beantworten. Es ist ganz klar, Wassermengen oberhalb von 1000 Litern pro Sekunde sind für die Energiegewinnung wohl uninteressant gewesen, da sie nur ungefähr 70 Tage im Jahr verfügbar waren und fast 10 Monate im Jahr eben nicht erreicht wurden. Würden damals bereits Talsperren existiert haben, wäre das eine andere Sache gewesen, da diese auf Grund ihres Speichervolumens eine gleichmäßigere Abflussmenge über das ganze Jahr ermöglicht hätten.

Um die Verteilung der Wasserführung unterhalb von 1000 Litern pro Sekunde etwas genauer betrachten zu können, ist dieser Bereich im oberen, rechten Teil der Graphik nochmals vergrößert dargestellt.

Es kann sich zwar wirklich nur um eine Abschätzung der Größenordnung handeln, aber es gibt 3 gute Gründe anzunehmen, dass die Anlagen für eine Wassermenge von 400 - 500 Litern pro Sekunde ausgelegt waren. Zwei dieser Gründe können und sollen sofort angeführt werden, während der dritte Grund erst im Laufe unserer weiteren Betrachtungen einsichtig werden wird.

Der erste Grund ist rein statistischer Natur, aber trotzdem sicherlich relevant und aussagekräftig. Eine Wasserführung von mindestens 450 Litern pro Sekunde wird nämlich an ungefähr 180 Tagen im Jahr erreicht. Das heißt, genau dieser Wert wird - betrachtet über ein ganzes Jahr - zur Hälfte der Zeit überschritten und zur anderen Hälfte der Zeit unterschritten. Mit anderen Worten, an jedem beliebigen Tag ist die Chance, eine höhere Wasserführung als 450 Liter pro Sekunde vorzufinden genau 50% und die Wahrscheinlichkeit einer geringeren Wasserführung ebenfalls genau 50%. Man kann also keinen anderen Einzelwert angeben, der die Wasserführung eines ganzen Jahres besser repräsentiert.

Der zweite Grund ergibt sich aus der Kurvenform. Bei einem Wert von 450 Litern pro Sekunde nämlich knickt die Kurve relativ steil nach oben ab. Die Nutzungsmöglichkeiten der Gesamtanlagen nahmen somit stark progressiv ab, wenn deren Kapazität den Wert von 450 Litern pro Sekunde überschritt.

Nun wird man vielleicht einwenden können, dass Datenmaterial ähnlich guter Qualität damals als Planungsunterlage nicht zur Verfügung stand. Das ist sicher richtig, aber man sollte schon bedenken, dass die beiden zur Diskussion stehenden Wirtschaftszweige einige Jahrhunderte Zeit hatten, sich im Vichttal zu entwickeln und, dass während dieser Zeit evolutionsähnliche Mechanismen abliefen, die wirtschaftlich sinnvolle, nahezu optimal angepasste Gesamtanlagen entstehen bzw. überleben ließen.

Eine Anlagenauslegung für 450 Liter pro Sekunde hatten wir also angenommen, eine Wassermenge, die genau während der Hälfte eines Jahres (allerdings nicht einer zeitlich zusammenhängenden Hälfte) zur Verfügung stand. Und hier könnte jetzt der nächste Einwand kommen, der Einwand nämlich, dass hiernach eine volle Maschinenausnutzung nur während 50% der Zeit möglich war, was für den Betreiber natürlich nicht befriedigend gewesen sein konnte.

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Der Dollartshammer
um 1544
Aquarell nach Walschaple von G. Dodt

Die damals üblichen Betriebszeiten erstreckten sich jedoch üblicherweise auf nur 12 Stunden pro Tag, und - welch ein Glück - der Vichtbach kannte keine Nachtruhe. Nur die Schmelzöfen (und der Vichtbach) liefen nachts weiter, wozu nur wenig Antriebswasser zum Betrieb der Blasebälge gebraucht wurde. Somit konnte der Hauptteil des Wassers in Speicherbecken (Mühlteiche, Weiher) gesammelt werden und stand somit für die Betriebszeiten bereit.

Berücksichtigt man nun noch den Sonntag als Ruhezeit, so kann man annehmen, dass eine Wasserführung von 225 Litern pro Sekunde (die Hälfte von 450) ausreichte, die Anlagen 12 Stunden an 6 Tagen der Woche voll auszunutzen und während der Nacht die Blasebälge (und nur diese) zusätzlich betreiben zu können. Diese Wassermenge von 225 Litern pro Sekunde stand jedoch an mehr als 300 Tagen im Jahr zur Verfügung, und - je nach Länge und Verteilung der Trockenperioden - konnte ein Teil der restlichen Niedrigwassertage noch durch die Speicherkapazität der Mühlteiche überbrückt werden.

Wassernotstand
Bei unserer angenommenen Auslegungskapazität der Gesamtanlagen müssten die Kupfer- und Reitmeister also eigentlich aus dem Schneider gewesen sein. Es ist nun aber überliefert, dass es gelegentlich zu ernsten, manchmal sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Kupferhöfen um Antriebswasser gekommen ist. Wenn unsere bisherigen Annahmen nun realistisch sind, müssten auch diese Schwierigkeiten an Hand des vorliegenden Datenbestandes nachvollziehbar sein. Und in der Tat, wenn wir die untere Grenzkurve betrachten, wird deutlich, dass es Jahre gegeben haben muss, in welchen eine ausreichende Wassermenge (225 Liter pro Sekunde) an nur 250 Tagen erreicht wurde. Das ist gleichbedeutend mit fast 4 Monaten im Jahr, in welchen weniger Wasser zur Verfügung stand als eigentlich benötigt wurde. Man kann sich leicht vorstellen, was das bedeutete.

Es kommt aber noch eine andere Überlegung hinzu. Während der verfügbare Beobachtungszeitraum von etwa 20 Jahren zur Bestimmung einer durchschnittlichen Jahresverteilung der Wasserführung vollkommen ausreicht, ist die Situation bei den Grenzkurven hinsichtlich ihrer Aussagekraft sehr viel kritischer. Es dürfte sofort einsichtig sein, dass bei einem erheblich längeren Beobachtungszeitraum durchaus Jahre zu erwarten wären, in denen alles noch viel schlimmer kommt. Oder rückblickend betrachtet, muss es während eines langen Erfahrungszeitraumes halt auch Jahre gegeben haben, in denen alles eben noch viel schlimmer gewesen ist, als von den eingezeichneten Grenzkurven gezeigt wird.

Im Umkehrschluss heißt das aber eben auch, dass die aus der Geschichte anklingenden Schwierigkeiten nicht notwendigerweise auf unternehmerisch unsinnige Entscheidungen bei der Planung und Auslegung der Anlage hindeuten, sondern, dass man in Extremjahren auch bei betriebswirtschaftlich sinnvoll ausgelegten Anlagen Probleme hatte.

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Foto: F. Holtz

Antriebsleistung
Bei der stark schwankenden Wasserführung und der Verteilung der Betriebszeiten waren die bereits angesprochenen Speicherbecken einerseits unbedingt erforderlich, hatten andererseits jedoch eine weitere, diesmal allerdings negative Konsequenz. Da Druckleitungen zu den Mühlrädern nicht bekannt waren, reduzierte sich das nutzbare Bachgefälle (bzw. das am Mühlrad wirksam werdende Gefälle der Antriebswassergräben) um die nutzbare Tiefe der Speicherbecken. Diesen Umstand sollten wir bei der Abschätzung des Wirkungsgrades nicht aus den Augen verlieren.

Aber eigentlich wären wir jetzt endlich soweit, einmal eine Leistungsangabe machen zu können. Unter den diskutierten Prämissen bezüglich der Wasserführung, der Auslegung der Anlagekapazität und bei dem vorgegebenen Gefälle zwischen Zweifall und der Mündung in die Inde ergibt sich für dieses Stück des Vichtbaches eine Gesamtleistung von 480 PS.

Entsprechend der im Vichttal vorliegenden geographischen Verteilung der Messingindustrie und des Eisenhüttengewerbes entfiel von dieser Gesamtleistung etwa 2/3 auf die Kupfermeister und ungefähr 1/3 auf die Reitmeister, wenn man annimmt, dass die Grenze zwischen den beiden Wirtschaftszweigen im Bereich Nachtigällchen - Bernardshammer gelegen hat. Von der tatsächlichen Aufteilung des Gefälles her stimmt das zwar nicht ganz, aber da wäre auch noch zu berücksichtigen, dass das von den Reitmeistern angestaute Vorratswasser nach dem Durchlauf durch die Reitmeistermühlen den Kupfermeistern wieder als Antriebswasser zur Verfügung stand, wodurch sich deren Anteil bei Niedrigwasser etwas erhöhte.

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Skizze: F. Holtz

Es ist ja bereits schon angedeutet worden, diese an sich nutzbare Energie des Vichtbaches von 480 PS konnte, insbesondere bei dem damaligen technischen Standard, nicht verlustfrei in mechanische Antriebsenergie umgewandelt werden. Wenn wir also wissen wollen, was letztendlich an Antriebsleistung wirklich zur Verfügung stand, müssen diese Umwandlungsverluste natürlich noch abgezogen werden. Man kann davon ausgehen, dass der Wirkungsgrad derartiger Anlagen bei vielleicht 30 oder 40% gelegen haben wird. Wem dieser Wert zu gering erscheint, der möge die eigentlichen Arbeitsmaschinen in die Betrachtung mit einbeziehen, und dann nämlich wäre ein Gesamtwirkungsgrad in einer Größenordnung von 35% schon recht optimistisch.

Rein rechnerisch wären wir somit bei 168 PS nutzbarer Antriebsleistung. Diesen Wert jedoch können wir so nicht stehen lassen, eigentlich schon deshalb nicht, weil hierdurch eine Genauigkeit vorgetäuscht würde, die nun wirklich überhaupt nicht vorhanden ist. Eingangs wurde ja bereits gesagt, dass es nur darum gehen kann, die Größenordnung abzuschätzen. Und, wie der Name schon sagt, der Vichtbach soll als Antriebsgröße eingeordnet werden, wozu Genauigkeit weniger gefordert ist als vielmehr ein realistischer Richtwert, und den wiederum sollten wir vielleicht bei runden 200 PS annehmen.

200 PS, eine runde, mehr oder weniger exakte Zahlenangabe, die ihrerseits natürlich wiederum subjektiv Interpretierbar ist; interpretiertbar hinsichtlich Bedeutung und Wertigkeit. Und hierbei kommt es, wie so oft, auch ganz entscheidend auf den eigenen Standpunkt an. Aus der Sicht der damaligen Zeitepoche sind 200 PS sicherlich sehr viel gewesen, konnte doch ein gesunder Gaul selbst in seinen besten Jahren eine Dauerleistung von einer 'Pferdestärke' nicht auf die Beine stellen.

Skizze
Skizze: F. Holtz

Selbst zur Anfangszeit der Dampfmaschine waren 200 PS noch eine ganze Menge. Dampfmaschinen von 20 PS waren gewaltige, teure und haushohe Konstruktionen, wovon man immerhin 10 Stück gebraucht hätte, um mit der Antriebskraft der Vicht gleichziehen zu können.

Aus heutiger Sicht klingen 200 PS als Grundlage zweier bedeutender Wirtschaftszweige eher lächerlich. Viele Einzelfamilien verfügen heute, rechnet man den Zweit- und Drittwagen mit ein, über ein Antriebspotential, mit dem sich alle Kupfer- und Reitmeister des Stolberger Tales zusammen und anteilmäßig begnügen mussten. So befremdlich es heute auch klingen mag, der Vichtbach mit seinen 200 PS in Verbindung mit der Wasserkraft von Inde und später auch Wehe trieb nicht die Maschinen eines unbedeutenden Kleingewerbes, sondern die Anlagen der so erfolgreichen Messingindustrie, deren Produkte für ganz Europa von Bedeutung waren.

In diesem Zusammenhang abschließend vielleicht noch ein Wort zum Wirkungsgrad, einem technischen Begriff, der das Verhältnis zwischen abgegebener, tatsächlich genutzter und eingebrachter Energie angibt und den wir für die damalige Zeit mit nur 30 - 40% angenommen hatten. Aber genau dieser technisch objektiv fassbare Wirkungsgrad erlaubt bezüglich Sinn oder Sinnlosigkeit eines Energieeinsatzes keinerlei Aussage, obschon diese - und eigentlich nur diese - aus gesamtökologischer und - ökonomischer Sicht interessant wäre. Das oben angeführte Beispiel aus der heutigen Zeit, das sich auf den Trend zum Zweit- und Drittwagen bezieht, lässt ahnen, dass es durchaus möglich ist, mit technischen Systemen selbst dann Energie zu vergeuden, wenn diese Systeme hervorragende Wirkungsgrade aufweisen, die um Größenordnungen besser liegen als die Mühlräder der Kupfer- und Reitmeister.

Und dann vielleicht noch eine Einordnung, eine Klassifizierung aus einer etwas anderen Sichtweise: Die Wasserkraft war eine Art regenerativer Energie, deren Höhe zwar einerseits durch das jeweilige Wasserdargebot begrenzt wurde, die sich andererseits jedoch - im Unterschied zu Erzlagerstätten beispielsweise - zeitlich unbegrenzt nutzen ließ und bei deren Umsetzung Langzeitspeicher überhaupt nicht involviert waren. Und mit dem letzten Punkt, dem Fehlen von Speicherkapazität nämlich, hätten wir jetzt einen grundlegenden Unterschied zu einer weiteren wichtigen Ressource, der Holzkohle, die, ähnlich wie die Wasserkraft, von den Kupfer- und Reitmeistern gleichermaßen benötigt wurde.

Die Holzkohle
Auch bei der Holzkohle handelte es sich im Prinzip um einen nachwachsenden Rohstoff, dessen Ausgangsmaterial in den Buchenwaldbeständen der nördlichen Eifel als riesiges Reservoir vorhanden war. Man konnte also auf Grund der vorhandenen Bestände und zunächst völlig ungestraft sehr viel mehr Buchenholz pro Jahr zur Holzkohlegewinnung schlagen, als im gleichen Zeitraum nachwachsen konnte. Eisen- und Messinggewerbe waren also in der Lage, weiter zu expandieren, obschon die dauerhaft verfügbare Holzkohlekapazität längst schon überschritten war, was irgendwann natürlich und unausweichlich höchst unangenehme Folgen haben musste; Folgen, die sich zwar später erst zeigten, dann aber eben doch sehr viel unangenehmer waren, als die Limitierung der Wasserkraft. Letztere nämlich war schon ganz zu Anfang und ohne jeden Zeitverzug spürbar gewesen, so dass dieser Standortfaktor direkt, zu jedem Zeitpunkt und gleich von Anfang an entwicklungssteuernd eingehen konnte.

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Holzkohle,
auch nach dem Verschwelen ist die Holzstruktur noch gut zu erkennen.
Foto: F. Holtz

Die Folgen des exzessiven Bucheneinschlages wurden um 1700 in aller Härte deutlich, wobei die höchst unangenehme Art dieser Folgen generell typisch und kennzeichnend ist für Systeme, deren Wirkungsmechanismen mit Speicherkapazitäten und Zeitverzögerungen hinterlegt sind. Die Messing- sowie Eisenherstellung und damit auch der Holzkohleverbrauch konnten für eine gewisse Zeit ein Niveau erreichen, das die Möglichkeiten der Region deutlich überstieg, wobei die Diskrepanz zwischen Bedarf und Verfügbarkeit anfänglich durch die vorhandenen riesigen Buchenwaldbestände überdeckt wurde.

Was dann folgte - eigentlich folgen musste - war eine Strukturkrise, wie man das heute zu bezeichnen pflegt, deren Verlauf und Ergebnis ganz von dem Standortfaktor Holzkohle bestimmt wurde. Die Kapazitäten der holzkohleverbrauchenden Wirtschaftszweige mussten den natürlichen Gegebenheiten angepasst werden, sie mussten - um im heutigen Sprachbild zu bleiben - gesundschrumpfen.

Es gab nie genug davon
Zur Einschätzung der damaligen Situation wären jetzt noch zwei Dinge von Bedeutung: Zur Herstellung von einer Gewichtseinheit Holzkohle wurde ein Vielfaches an Buchenholz benötigt, und dieses Buchenholz wuchs nur sehr langsam nach. Als Richtwert kann man annehmen, dass zur Herstellung von 100 kg Holzkohle 400 kg lufttrockenes und hierfür wiederum 500 kg frisches Buchenholz benötigt wurden. Es ist fernerhin zu berücksichtigen, dass die Waldflächen damals forstwirtschaftlich weniger systematisch genutzt wurden als dies heute der Fall ist. Während man heute für einen Festmeter Buchenholz pro Jahr von einem Flächenbedarf von 2500 bis 2800 Quadratmeter ausgehen kann, dürfte dieser Flächenbedarfswert zur damaligen Zeit deutlich höher, vielleicht bei 4000 Quadratmeter gelegen haben (150 Festmeter pro Hektar bei 60-jährigem Bestand). Wenn man also 500 kg Buchenholz pro Jahr schlagen wollte (erforderliche Menge für 100 kg Holzkohle), so würde sich hierfür ein Flächenbedarf von ca. 2000 Quadratmeter ergeben, was der Größe von zwei doch schon recht geräumigen Grundstücken entspräche.

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Skizze: F. Holtz

Der Verbrauch an Holzkohle pro Gewichtseinheit erschmolzenem Metall war für die beiden Wirtschaftszweige stark unterschiedlich und lag bei der Eisenherstellung erheblich höher als bei der Herstellung von Messing. Genau diese Tatsache war verantwortlich dafür, dass die Anpassung der Produktionskapazitäten an die dauerhaft verfügbare Holzkohlemenge sich fast ausschließlich zu Lasten der Reitmeister vollzog, die nach und nach aus dem Vichttal verdrängt wurden.

Die Abwanderung der Reitmeister aus dem Vichttal weist ganz eindeutig Parallelen zu der bereits besprochenen Situation im früheren Aachen auf, nur, dass es diesmal nicht um Wasserkraft, sondern um Holzkohle ging, und dass der religiöse Aspekt ganz einfach deshalb fehlte, weil auch die Reitmeister überwiegend protestantisch waren.

Wie stark die Kupfermeister bei dieser Auseinandersetzung im Vorteil waren wird deutlich, wenn man sich den Holzkohlebedarf und den damit verbundenen Verbrauch an Buchenholz etwas genauer ansieht. Während zur Gewinnung von 100 kg Eisen 350 kg Holzkohle benötigt wurden, waren zur Herstellung der gleichen Menge Messing nur etwa 50 kg Holzkohle erforderlich.

Gerade die Eisenöfen waren also richtige Holzkohlenfresser, wofür es natürlich auch einen Grund gab. Wurde nämlich beim Messingbrennen die Holzkohle lediglich als Reduktionsmittel benötigt, wobei die eigentliche Beheizung hauptsächlich mittels Steinkohle erfolgte, so musste man bei der Eisenherstellung die Holzkohle sowohl als Reduktionsmittel als auch zur Beheizung einsetzen, wozu natürlich entsprechend größere Mengen erforderlich waren.

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Reitwerk mit Hochofen,
Aquarell von Helmut Schreiber.

Die Abhängigkeit von der nur langsam nachwachsenden Holzkohle verhinderte übrigens nicht nur in unserer Region noch sehr lange eine großtechnische Massenproduktion von Eisen und Stahl bis die Holzkohle durch die Verwendung von Koks abgelöst werden konnte.

Der Verbrauch von Holzkohle und damit auch von Buchenholz bei der Eisenherstellung sowie der hierfür erforderliche Flächenbedarf lassen sich verdeutlichen, wenn wir nochmals wieder ein relativ großes Grundstück mit einer Fläche von 1000 Quadratmeter als Ausgangsbasis annehmen. Diese mit Buchenwald bestandene Fläche würde bei den damals vorliegenden Nutzungsbedingungen durchschnittlich ca. 50 kg Holzkohle pro Jahr geliefert haben, die, bei ausschließlicher Verwendung zur Eisenherstellung, eine Gewinnung von etwas mehr als 14 kg Eisen pro Jahr ermöglicht hätte. Dies würde einer Eisenmenge entsprechen, die gerade mal ausreichte, um jede Woche ein einziges Tafelbesteck - bestehend aus einem Esslöffel, einer Gabel und einem Messer - herzustellen, wobei bei entsprechend leichter Ausführung vielleicht auch noch jede Woche ein Teelöffel möglich gewesen wäre. Ein einziges Tafelbesteck pro Woche ließ sich also mit dem Holzkohleertrag einer Fläche von 1000 Quadratmeter herstellen. Die Anschaffung einer kleineren Ofenplatte, um noch ein weiteres Beispiel anzuführen, bedeutete zwangsläufigerweise die Inanspruchnahme der Fläche eines recht großen Grundstückes für ein ganzes Jahr.

Skizze
Skizze: F. Holtz

Natürlich könnte man jetzt auch fragen, wie denn wohl ein entsprechender Vergleichswert (Inanspruchnahme von Fläche pro Gewichtseinheit) bei der Steinkohle aussehen würde. Im Prinzip wäre eine derartige Aussage sogar möglich, denn auch die Steinkohle ist vom Grundsatz her eine nachwachsende Ressource, nur, dass wir nicht die Zeit haben, darauf zu warten. Unter dem durchaus zutreffenden Gesichtspunkt, dass die Steinkohle vor langer, langer Zeit tatsächlich einmal gewachsen ist und in nicht absehbarer Zukunft wohl irgendwann und irgendwo wieder einmal nachwachsen und abgelagert werden wird, ergibt sich beim Verbrauch von Steinkohle eine Inanspruchnahme von Landfläche, die, im Vergleich zur Holzkohle, exorbitant hoch ist.

In der Tat lässt sich die erste Bildungsstufe der Inkohlung als Vertorfung in unseren Mooren ständig beobachten, und trotzdem waren zur Bildung abbauwürdiger Steinkohleflöze mehrere Jahrtausende erforderlich. Fernerhin gilt es zu bedenken, dass die Voraussetzungen zur Entstehung von Steinkohle im Laufe der erdgeschichtlichen Entwicklung recht selten waren, wobei wir insgesamt über Zeiträume von einigen hundert Millionen Jahren reden. Während dieser fast schon unendlich langen Zeit hat sich weltweit allerdings einiges an Vorräten angesammelt. Nur, wenn diese Vorräte einmal zur Neige gehen, werden die daraus entstehenden Strukturprobleme nicht mehr so einfach lösbar sein, wie das damals noch im Vichttal bei der Holzkohlekrise möglich gewesen ist.

Warenwerte im Vergleich
Damals, zu Anfang des 18. Jahrhunderts, waren die Kupfermeister, wie bereits erwähnt, in einer deutlich besseren Situation als die Reitmeister, weil sie bei der Messingherstellung die Holzkohle lediglich als Reduktionsmittel einsetzen mussten. Die Beheizung der Öfen konnte mit Steinkohle erfolgen, was bei den eisenschaffenden Reitmeistern nicht möglich war. Die Gewichtsmenge der produzierten Metalle, die sich bei den Kupfermeistern und bei den Reitmeistern durch Einsatz der jeweils gleichen Holzkohlenmenge ergaben, waren somit stark unterschiedlich. Mit der gleichen Holzkohlemenge ließ sich (gewichtsbezogen) sieben mal mehr Messing als Eisen herstellen. Damit aber nicht genug, Messing war auch das weitaus teurere Metall, dessen Preis mehr als 10 mal höher lag als der des Eisens.

Der stark unterschiedliche Holzkohlebedarf pro Gewichtseinheit produziertem Metall einerseits und die stark unterschiedlichen Metallpreise andererseits führten dazu, dass die Warenwerte, die sich beim Einsatz der gleichen Holzkohlemenge fertigen ließen, bei der Messingherstellung ungefähr 80 mal höher waren, als bei der Verhüttung und Verarbeitung von Eisen. Wenngleich man bezüglich der Gewinnspannen und der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung nicht unbedingt von der gleichen Verhältniszahl auszugehen hat, ist es eigentlich einsichtig und nachvollziehbar, dass die Holzkohle zunehmend dort eingesetzt wurde, wo sich mit dem Einsatz dieser knapper werdenden Ressource ein möglichst hoher Warenwert erzielen ließ.

Skizze
Skizze: F. Holtz

So einsichtig uns das auch heute erscheinen mag, die Reitmeister fanden diesen Anpassungsprozess verständlicherweise sehr viel weniger einsichtig als vielmehr existenzbedrohend bzw. existenzvernichtend. Objektiv und mit sehr viel Abstand betrachtet war es nun aber eigentlich so, dass den Reitmeistern aus gesamtwirtschaftlichen Gründen eine Umsiedlung sehr viel eher zugemutet werden konnte als den Kupfermeistern, denn Eisenerze ließen sich - auch in der näheren Umgebung (Kalltal, Schleidener Tal usw.) - sehr viel eher finden als der zur Messingherstellung erforderliche, recht seltene Galmei. Die Abwanderung der Reitmeister aus dem Vichttal vollzog sich nun aber natürlich nicht freiwillig und aus der weisen Erkenntnis dieser Zusammenhänge, sondern unter dem Druck der damals vorliegenden Sachzwänge. Es handelte sich also um einen Vorgang, den man heute als freies Spiel der (marktwirtschaftlichen) Kräfte bezeichnen würde.

Wenngleich die Beteiligten diesen Ablauf wohl kaum als Spiel aufgefasst haben dürften, waren die so genannten Spielregeln klar: Bei der Messingherstellung war der Kostenfaktor Holzkohle an den Gesamtproduktionskosten in sehr viel geringerem Maße beteiligt und folglich von entsprechend geringerer Bedeutung als bei der Eisengewinnung. Man konnte sich also im Messinggewerbe die knapper und teurer werdende Holzkohle eher leisten und vereinnahmte die benötigten Mengen gegebenenfalls über die Zahlung entsprechend hoher Preise. Letzteres musste allerdings in nur bescheidenem Maße praktiziert werden, da die Landesherren aus fiskalischen Gründen (siehe Verhältnis der Warenwerte bei Einsatz gleicher Holzkohlemengen) die Messingindustrie gegenüber dem eisenschaffenden Gewerbe bevorzugten und den Kupfermeistern nach entsprechenden Anträgen und Bittstellungen die Holzkohle zu recht günstigen Preisen zuwiesen.

Und mit diesen Arrangements bezüglich der Ressourcen - wenn man es denn so nennen will - konnte sich die Messingindustrie bis zur Hochblüte entwickeln und im 18 Jahrhundert europäische Monopolstellung erreichen. Während man, zusammenfassend gesagt, die Limitierung der dargebotenen Wasserkraft durch großflächige Besiedelung und Nutzung praktisch aller geeigneten Bachläufe entschärfte, wurde das Problem der ebenfalls nur begrenzt zur Verfügung stehenden Holzkohle dadurch gelöst, dass man die Konkurrenten, die Eisenhüttenleute nämlich, die unverhältnismäßig hohe Holzkohlemengen in Anspruch nahmen, aus dem Tal verdrängte.

Auch Galmei wurde knapp
Bei dem dritten, dem eigentlich wichtigsten Grundstoff, dem Galmei, handelte es sich, wie allen Erzlagerstätten, um eine nicht-regenaretive Ressource, die sich selbstverständlich durch jedwede Abbautätigkeit reduzierte und verbrauchte. Und natürlich waren der Entwicklung der Messingindustrie hierdurch Grenzen vorgegeben, die irgendwann ganz zwangsläufigerweise erreicht werden mussten.

In der Tat und wie nicht anders zu erwarten, ist diese Grenze dann auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spürbar geworden, allerdings wurde die Verarmung der Erzmittel in den Galmeifeldern von vielschichtigen, teils politischen, meist aber technischen Entwicklungen begleitet und überprägt. Letztlich aber haben all diese Entwicklungen dazu geführt, dass die Vormachtstellung des Stolberger Messinggewerbes zu Ende ging und damit auch die Art der Messingherstellung, die für die Zeit der Kupfermeister typisch war und die dem Stolberger Tal durch seine Nähe zu den Galmeilagerstätten den entscheidenden Standortvorteil verschafft hatte.

So richtig begonnen haben die Schwierigkeiten mit dem englisch - französischen Handelsvertrag, der 1786 abgeschlossen wurde, und der dem Stolberger Messing in Frankreich hohe Schutzzölle auferlegte, während englische Messingwaren ungehindert nach Frankreich eingeführt werden konnten. Verschärft wurde die hierdurch ausgelöste Absatzkrise noch dadurch, dass die Stolberger Galmeivorräte langsam zur Neige gingen, und man zunehmend den teureren (allerdings auch qualitativ besseren) Altenberger Galmei einsetzen musste.

Man sollte sich allerdings davor hüten, diese Absatzkrise als Ursache für den Niedergang der Stolberger Messingindustrie anzusehen, denn eine Veränderung der politischen Lage hätte eine nachhaltige Erholung der Stolberger Messingindustrie zur Folge haben müssen, wenn die Schwierigkeiten wirklich nur auf fehlende Absatzmärkte zurückzuführen gewesen wären. Tatsächlich hat es um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Franzosenzeit) für die Messingindustrie nochmals eine kurze Blütezeit gegeben. Allerdings waren die Möglichkeiten, ausreichende Galmeivorkommen durch einfache Pingen- und Packenbauweise zu erschließen, endgültig dahin. Die mit diesen einfachen Abbaumethoden erreichbaren Erzlager waren mittlerweile und nach jahrhundertelanger Schürftätigkeit erschöpft.

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